Hintergrund
Im Altersverlauf bleibt die allgemeinärztliche Inanspruchnahme bei Frauen konstant hoch, während die Inanspruchnahme der ambulanten gynäkologischen Versorgung mit zunehmendem Alter kontinuierlich abnimmt. Im Durchschnitt nehmen 41% der Frauen ab 50 Jahren in Deutschland eine gynäkologische Versorgung nicht mehr jährlich in Anspruch, obwohl auch in diesem Alter Beratungs- und Behandlungsanlässe in Bezug auf die Frauengesundheit vorliegen. Wechseljahresbeschwerden, Osteoporose, Probleme mit der Blase, operative Eingriffe und Krebsfrüherkennung sind die häufigsten Gründe zur Konsultation einer gynäkologischen Praxis. Eine geringe Gesundheitskompetenz wurde mit einer reduzierten Inanspruchnahme und einem schlechteren Gesundheitszustand assoziiert. Zugangsbarrieren zur gynäkologischen Versorgung betreffen vor allem Frauen mit niedrigem sozioökonomischem Status und ältere Frauen.
Fragestellung
Wie gestaltet sich die Inanspruchnahme der gynäkologischen Versorgung von Frauen 50+? Welche Gründe für eine Nichtinanspruchnahme können auf eine reduzierte Gesundheitskompetenz hinweisen?
Methode
Im Projekt „Frauen 5.0“ (Innovationsfonds, FKZ 01VSF16030) wurden von Juni bis September 2018 25 Frauen über 50 Jahren aus der Region Nordost (Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern) mittels qualitativer leitfadengestützter Telefoninterviews befragt. Dabei ging es u.a. um ihr Verständnis von Frauengesundheit, um ihre gynäkologische und hausärztliche Betreuung, die Zugänglichkeit zur gynäkologischen und hausärztlichen Praxis sowie um ihre Einschätzung der frauengesundheitlichen Versorgung in ihrer Region. Sie wurden von Hausärztinnen und Hausärzten rekrutiert und bewusst nach Region (Berlin n = 8, Brandenburg n = 9, Mecklenburg-Vorpommern n = 8) und Altersgruppe (50-64 Jahre n = 11, 65-74 Jahre n = 6, über 75 Jahre n = 8) ausgewählt. Alle interviewten Frauen sind in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert und mit unterschiedlichen Erkrankungen vorbelastet. Sechs der interviewten Frauen nahmen keine gynäkologische Versorgung mehr in Anspruch. Die Interviews wurden transkribiert und mit der Framework Analyse ausgewertet.
Ergebnisse
Frauengesundheit wurde häufig mit der gynäkologischen Krebsfrüherkennung assoziiert. Der wichtigste Primärversorger für Frauengesundheit ist die Gynäkologin/der Gynäkologe. Patientinnen, die nicht mehr zur Gynäkologin/zum Gynäkologen gehen, nahmen weiterhin das Mammografie-Screening in Anspruch. Für Frauen, die nicht mehr die gynäkologische Versorgung wahrnehmen, wurde die Hausärztin/der Hausarzt als Ansprechpartner/in für Frauengesundheit gesehen, die/der u.a. auch informieren und motivieren kann. Für alle interviewten Frauen wurde das Reden über sexuelle Gesundheit und gynäkologische Belange mit der Hausärztin/mit dem Hausarzt als unproblematisch beschrieben, wenn sie darauf direkt angesprochen werden würden. Die Nichtinanspruchnahme der gynäkologischen Versorgung von Frauen über 50 Jahren wurde sowohl auf persönliche als auch auf gesundheitssystemische Barrieren zurückgeführt. Persönliche Gründe umfassten Alter, keine Zeit, keine Symptome, Scham/Angst vor der gynäkologischen Untersuchung, eigene Erkrankungen oder Erkrankungen des Partners. Gesundheitssystemische Gründe beinhalteten fehlende Stammpraxis, große Entfernung, Probleme bei Terminvereinbarungen und lange Wartezeiten.
Diskussion
Mit dem Begriff der Gesundheitskompetenz wird das Wissen, die Motivation und die Fähigkeiten von Menschen beschrieben, Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden, um im Alltag in gesundheitsrelevanten Bereichen Entscheidungen treffen zu können (Sørensen et al. 2012). Die Untersuchung zeigte, dass die Inanspruchnahme gynäkologischer Leistungen sowohl mit der Gesundheitskompetenz wie auch mit gesundheitssystemischen Faktoren wie der Zugänglichkeit zusammenhängt. Zu fragen ist demnach, wie das Gesundheitssystem gestaltet werden kann, damit ein gesundheitskompetentes Verhalten von Frauen über 50 Jahren unter Berücksichtigung individueller Voraussetzungen (value based healthcare, patient-centered care) gefördert werden kann. So könnte beispielsweise die Zusammenarbeit zwischen Fachärztinnen und Fachärzten für Allgemeinmedizin und Gynäkologie verbessert werden oder durch unterschiedliche Institutionen (z. B. Krankenkassen, Hausarztpraxen) auf das Thema Frauengesundheit mittelalter und älterer Patientinnen aufmerksam gemacht werden, und zwar nicht nur (aber auch) in Bezug auf die Krebsfrüherkennungsuntersuchungen. Konkrete Lösungsansätze werden im Rahmen des Projekts „Frauen 5.0“ erarbeitet.
Praktische Implikationen
Die Nichtinanspruchnahme von Versorgungsleistungen kann pauschal nicht auf niedrige Gesundheitskompetenz zurückgeführt werden. Die Patientensicht kann wertvolle Hinweise für die weitere Entwicklung des Gesundheitssystems und der Gesundheitsversorgung liefern und ist zu berücksichtigen.
Hintergrund: Zahlreiche internationale Studien belegen, dass der Anteil eingeschränkter Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung hoch ist und der Umgang mit Gesundheitsinformationen zahlreiche Schwierigkeiten bereitet. Dieser Trend bestätigt sich auch für Deutschland. Hier haben der ersten repräsentativen Studie zur Gesundheitskompetenz der Bevölkerung (HLS-GER) zufolge 54,3% eine eingeschränkte Health Literacy. Mit dem HLS-GER konnte eine erste wichtige Datengrundlage zur Gesundheitskompetenz in Deutschland geschaffen werden. Um ein systematisches Vorgehen bei der Förderung der Gesundheitskompetenz zu ermöglichen und weiterführende Erkenntnisse zu erlangen, ist es jedoch notwendig, die Gesundheitskompetenz wiederholt zu messen. Diese Forderung wird auch von der WHO unterstrichen, denn nur eine kontinuierliche Erfassung der Gesundheitskompetenz erlaubt Zeitvergleiche und ermöglicht, Problemfelder und Interventionserfordernisse zu identifizieren sowie die Effekte von Maßnahmen zur Stärkung der Gesundheitskompetenz zu messen. Eine solche wiederholte Befragung zur Gesundheitskompetenz der Bevölkerung erfolgt mit dem HLS-GER 2. Die Wiederholungsbefragung wird vom Bundesministerium für Gesundheit gefördert und ist Teil der internationalen Vergleichsstudie HLS-19, die vom „WHO Action Network on Measuring Population and Organizational Health Literacy (M-POHL)“ unter dem Dach der Health Information Initiative (EHII) der WHO Europa unterstützt wird.
Fragestellung: Es wird der Frage nachgegangen, welche Schwerpunkte für eine wiederholende Befragung zur Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland relevant sind und welche Aspekte für eine vertiefende Betrachtung der vorliegenden Ergebnisse notwendig sind.
Methode: In verschiedenen Arbeitsgruppen wurde in Zusammenarbeit mit den internationalen Expert*innen des M-POHL Netzwerkes - aufbauend auf den vorliegenden Gesundheitskompetenz-Studien HLS-GER und HLS-EU – an der methodischen und thematischen Weiterentwicklung im Rahmen des HLS-GER 2 sowie des HLS-19 gearbeitet. Anknüpfend an die Vorgehensweise im HLS-GER werden die Ergebnisse der Weiterentwicklung im Rahmen einer erneuten repräsentativen, persönlichen Befragung von 2.000 Personen zur Gesundheitskompetenz in Deutschland Anwendung finden.
Ergebnisse: Die Gesundheitskompetenz wird im Rahmen des HLS-GER2 mit dem international verbreiteten Befragungsinstrument HLS-EU-Q47 erhoben, das leicht überarbeitet wird. Zudem wird eine Anpassung der Kovariablen und Outcomes von Health Literacy an andere europäische und deutsche Studien vorgenommen, um die Vergleichbarkeit zu erhöhen. Zusätzlich wird die Befragung um neue Themen ergänzt. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei auf Fragen zur digitalen und versorgungsbezogenen Gesundheitskompetenz (eHealth Literacy & Health Care Literacy) gelegt, die in der Zwischenzeit an gesellschaftlicher Relevanz gewonnen haben. Auch das Informationsverhalten der Bevölkerung wird einen Schwerpunkt bilden.
Diskussion: Mit der wiederholenden Messung von Gesundheitskompetenz im Rahmen des HLS-GER2 können vertiefende Erkenntnisse zum Gesundheitskompetenz-Niveau der deutschen Bevölkerung generiert werden, die internationalen Standards entsprechen und einen Vergleich zwischen zahlreichen europäischen Ländern ermöglichen. Zudem wird die Vergleichbarkeit zu anderen nationalen und internationalen Surveys erhöht.
Praktische Implikationen: Die wiederholende Messung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland im Rahmen des HLS-GER 2 bildet eine wichtige Grundlage für die Interventionsentwicklung zur Stärkung der Gesundheitskompetenz. Zudem werden neue Daten zu wichtigen Themen wie eHealth Literacy und Health Care Literacy geschaffen, die für den Versorgungskontext von besonderer Bedeutung sind.
Hintergrund: Health Literacy (HL) von Erwachsenen steht mit Gesundheitsindikatoren wie körperlicher Aktivität und Ernährungsgewohnheiten in enger Verbindung. Darüber hinaus wird davon ausgegangen, dass HL von Eltern ursächlich für das Gesundheitsverhalten ihrer minderjährigen Kinder mitverantwortlich ist. Auch ist bekannt, dass sozioökonomischer Status (SES) einen starken Einfluss auf Gesundheitswissen und -verhalten hat. Obwohl das HL-Konzept in Politik und Wissenschaft in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat, fehlen empirische Daten. In Deutschland wurde der Zusammenhang zwischen elterlicher HL, SES und Kindergesundheit bislang nicht untersucht. Die hier vorgestellten Ergebnisse tragen dazu bei, diese Wissenslücke zu schließen.
Fragestellung: Welche Zusammenhänge bestehen zwischen elterlicher Gesundheitskompetenz, SES und dem Gesundheitsverhalten von Kindern?
Methode: In einer Querschnittsstudie wurden Daten von 4.217 Eltern und ihren Kindern an 28 allgemeinbildenden Schulen in Brandenburg und Hessen erhoben. Unterschiedliche Schultypen, einschließlich Grund- und weiterführenden Schulen, Schulen in unterschiedlichen sozialen Lagen, Schulen mit niedrigem sowie hohem Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund sowie Schulen im städtischen sowie ländlichen Raum waren in der Stichprobe vertreten. Bivariate und multivariate Korrelationen zwischen HL der Eltern (basierend auf HLS-EU-Q16) und dem Gesundheitsverhalten und -status der Kinder wurden berechnet, unter Berücksichtigung von demographischen und sozioökonomischen Faktoren.
Ergebnisse: Unter den befragten Eltern zeigten 33,7% eine problematische und 12,1% eine inadäquate HL. Die wichtigste soziale Determinante von elterlicher HL war SES. Darüber hinaus standen das Alter der Eltern und der Wohnort mit HL in Zusammenhang. Eltern mit hohem SES, ältere Eltern und Eltern in Hessen wiesen eine höhere Gesundheitskompetenz auf als Eltern, die diese Charakteristiken nicht teilten. Im multivariaten Modell blieb nur SES als signifikanter Prädiktor. Andere demographische Faktoren, einschließlich Migrationsstatus sowie städtisches/ländliches Umfeld, standen in keinem statistischen Zusammenhang mit elterlicher HL.
Hohe HL der Eltern konnte mit einer Reihe von gesundheitlich positiven Verhaltensweisen der Kinder in Verbindung gebracht werden. Kinder aus Haushalten mit hoher elterlicher HL zeigten einen signifikant höheren Konsum von Gemüse, Salat und Früchten und putzten sich regelmäßiger die Zähne. Kinder unter 11 Jahren waren zudem häufiger körperlich aktiv. Ältere Kinder und Jugendliche zwischen 11 und 17 Jahren konsumierten weniger gesüßte Getränke. Ein Zusammenhang zwischen HL der Eltern und dem Alkoholkonsum, Tabakkonsum sowie dem BMI der Kinder konnte nicht festgestellt werden. Starke Zusammenhänge zwischen elterlicher HL und Lebensqualität wurden dagegen bestätigt. Eltern mit höherer Gesundheitskompetenz verfügten über eine bessere subjektive Gesundheit, eine höhere Lebenszufriedenheit und sie bewerteten auch ihre Kinder als gesünder als Eltern mit niedrigerer Gesundheitskompetenz.
Diskussion: Obwohl nicht repräsentativ, spiegelt die beschriebene Stichprobe die Vielgestaltigkeit der deutschen Bildungslandschaft mit ihren diversen Schüler- und Elternpopulationen wieder. Sie ermöglicht erstmals, den Zusammenhang zwischen Gesundheitskompetenz der Eltern und dem Gesundheitsverhalten von Kindern zu quantifizieren und mögliche ursächliche und verstärkende Prädiktoren von elterlicher HL und Kindergesundheit aufzuzeigen. Eine größere, für die Gesamtbevölkerung repräsentative Studie wäre wünschenswert, um diese Zusammenhänge weiter auszuleuchten.
Praktische Implikationen: Die vorliegenden Ergebnisse können genutzt werden, um gesundheitsstrategisch im Setting Schule erfolgversprechende Maßnahmen zur Stärkung der Gesundheitskompetenz einzuleiten. Kinder aus Haushalten mit niedriger elterlicher Gesundheitskompetenz sowie geringem SES treten als Zielgruppe besonders in Erscheinung. Vulnerable Eltern sollten gezielt unterstützt werden, ihr Gesundheitswissen zu erweitern, vorhandene Informationen und Angebote zu nutzen und evidenzbasierte gesundheitsbezogene Entscheidungen für sich und ihre Kinder zu treffen.
Hintergrund
Chronisch kranke Patienten werden zunehmend im Selbstmanagement ihrer Erkrankung geschult, um Eigenverantwortung für das Management ihrer Erkrankung übernehmen zu können. Voraussetzung für ein adäquates Selbstmanagement sind ausreichende Fähigkeiten und Wissen der PatientInnen im Umgang mit ihrer Erkrankung. Dazu sind eine ausreichende Gesundheitskompetenz und ein sicherer Umgang mit Gesundheitsinformationen notwendig. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass ärztliche und nicht ärztliche Versorger in einer patientenverständlichen Sprache kommunizieren und auf die individuellen Bedarfe und Kompetenzen der Patienten eingehen. Die folgende Untersuchung beschäftigt sich damit, ob Ärzte die Gesundheitskompetenz ihrer Patienten adäquat einschätzen können.
Fragestellung
Inwiefern gleichen oder unterscheiden sich die Selbsteinschätzung der Gesundheitskompetenz, gemessen am Health Literacy Survey-(HLS)-Score, von chronisch kranken Patienten und die Fremdeinschätzung durch ihre Versorger.
Methode
Innerhalb eines Papierfragebogens wurde unter anderem der HLS-EU-16 angewendet um persönliche Kompetenzen und Erfahrungen der Patienten in der Bewältigung gesundheitsrelevanter Fragestellungen zu messen (HLS-Score). Insgesamt wurden 345 PatientInnen aus 13 allgemeinmedizinischen Praxen in NRW schriftlich befragt. Zusätzlich wurden die behandelnden ÄrztInnen direkt nach dem Patientenkontakt ebenfalls befragt. Hierzu wurde der HLS-EU-16 so umformuliert, so dass die Behandler ihre Patienten einschätzen sollten. Über eine Zusatzfrage nur für die Behandler konnten diese die Gesundheitskompetenz ihrer Patienten auch zusammengefasst bewerten.
Ergebnisse
Das Patientenkollektiv war zu 59,7% weiblich und nahezu zur Hälfte 61 Jahre und älter (49,8%), 23,9% waren 71 und älter. Von den befragten PatientInnen wiesen 58,3% eine oder zwei chronische Krankheiten aus, 35,5% wiesen drei oder mehr Erkrankungen auf. Während 23,3% einen Migrationshintergrund hatten, gaben 74,8% Deutsch als Haussprache im Haushalt an. 41,2% hatten ein Haupt-, Volks- oder Oberschulabschluss, 22,7% einen Realschulabschluss und 30,4% einen höheren Schulabschluss, 5,7% hatten keinen regulären Abschluss.
Der HLS-Score der Selbsteinschätzung (P) war im Durchschnitt 12,2 während die ärztliche Fremdeinschätzung einen durchschnittlichen Score von 10,8 ergab (n=293 vs. 262, Unterschied signifikant auf 5%-Niveau). Die Behandler schätzen die Gesundheitskompetenz der Patienten signifikant seltener als die Patienten selbst als ausreichend (45,0% vs. 52,9%) ein, gleichsam schätzten die Behandler ihre Patienten häufiger als inadäquat gesundheitskompetent ein (33,6% vs. 14,3%). In der zusätzlichen Arzteinschätzung wurde die Gesundheitskompetenz der PatientInnen in 3,4% der Fälle als „unzureichend“, 53,2% als „eher (nicht) ausreichend“ und 43,3% als „ausreichend“ eingestuft.
Als Einflussfaktoren konnten bei der HLS-Patientenbewertung nur der Schulabschluss bestätigt werden (0,332), bei der ärztlichen HLS-Fremdeinschätzung waren Alter, Schulabschluss und die Anzahl der chronischen Krankheiten bestätigte Einflussfaktoren (-0,187; 0,178; 0,169).
Auf die zusätzliche Bewertung der Behandler hatten die Faktoren Alter, Geschlecht, Schulabschluss (-0,157; -0,162; 0,170) einen Einfluss, außerdem waren die Faktoren Migration, chronische Krankheiten sehr nah an der Signifikanzgrenze.
Diskussion
Die Selbsteinschätzung der Gesundheitskompetenz von chronisch kranken Patienten und deren Fremdeinschätzung durch die behandelnden Ärzte unterscheidet sich signifikant. Behandler schätzen die Gesundheitskompetenz ihrer Patienten signifikant schlechter ein, als diese sich selbst einschätzen. Welche Einschätzung der Gesundheitskompetenz der tatsächlichen Fähigkeit Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen und anzuwenden eher entspricht, sollte in einem nächsten Schritt durch eine objektivierte Zusatzerhebung untersucht werden. Gesichert erscheint, dass Behandler bewusst oder unbewusst mehr Faktoren in Ihre Einschätzung mit einfließen lassen, dies gilt vor allem dann, wenn Behandler die Gesundheitskompetenz ihrer Patienten allgemein einschätzen sollen.
Praktische Implikationen
Für eine angemessene Gesundheitsversorgung und den richtigen Umgang mit Gesundheitsinformationen ist es nicht nur wichtig, dass Patienten befähigt sind Gesundheitsinformationen zu erlangen und zu verstehen, ebenso ist es wichtig, dass die Behandler gegebenenfalls Missstände in der Gesundheitskompetenz erkennen und adressieren können. Dazu ist es in erster Linie hilfreich, dass Patienten und Behandler eine ähnliche Einschätzung der Gesundheitskompetenz haben. In einem weiteren Schritt muss nun herausgefunden werden, welche Einschätzung eher der Realität –im Sinne einer objektiven Messung- entspricht und wie die unterschiedlichen Einschätzung zustande kommen und adressiert werden können.
Hintergrund
Gesundheitskompetenz bezeichnet die Fähigkeit eines Menschen gesundheitsrelevante Informationen zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden. Aufgrund der Komplexität des Gesundheitssystems und seiner Fülle an Informationen, sind Patient*innen hohen Anforderungen ausgesetzt, um gesundheitsrelevante Informationen adäquat nutzen zu können. Gesundheitsprofessionen, wie Ärzt*innen oder Pflegefachkräfte, nehmen eine besondere Rolle ein: Sie sind häufig erste Anlaufstelle von Patient*innen bei gesundheitlichen Fragen. Daher sollten verschiedenste Gesundheitsprofessionen möglichst adäquat einschätzen können, wie die Gesundheitskompetenz ihrer Patient*innen ausgeprägt ist.
Fragestellung
Das Ziel dieser Arbeit ist es, einen Überblick über den aktuellen Stand der Forschung zur Übereinstimmung zwischen der Einschätzung der patientenbezogenen Gesundheitskompetenz durch Patient*innen (Selbsteinschätzung) und verschiedener Gesundheitsprofessionen (Fremdeinschätzung) zu erstellen.
Methode
Im Januar 2019 wurde in den Datenbanken PubMed, Scopus, PsycINFO, CINAHL, Cochrane library eine systematische Literaturrecherche durchgeführt. Nach dem Titel- und Abstract- Screening und Volltext-Screening, wurden in die Auswertung Originalarbeiten eingeschlossen, bei denen die patientenbezogene Gesundheitskompetenz erhoben worden ist. Das Volltext-Screening wurde unabhängig von zwei Raterinnen durchgeführt. Weitere Einschlusskriterien waren die Einschätzungen der Gesundheitskompetenz durch Patient*innen und Gesundheitsprofessionen, die Beschreibung der Methodik der Einschätzung sowie die Analyse der Übereinstimmung der Gesundheitskompetenz von Patient*innen (Selbsteinschätzung) und der Gesundheitsprofessionen (Fremdeinschätzung). Zu den Gesundheitsprofessionen zählen Berufsgruppen, die im direkten Kontakt zu Patient*innen stehen, wie Ärzt*innen, Pflegefachkräfte, Physiotherapeut*innen, Pharmazeut*innen und Sozialarbeiter*innen.
Ergebnisse
Die Datenbankenrecherche identifizierte insgesamt 5079 Treffer, nach Abzug der Duplikate verblieben 1712 Treffer. Nach dem Titel-/Abstract-Screening wurden 40 Studien für das Volltext-Screening in Betracht bezogen. Die Daten aus acht Arbeiten erfüllten die Einschlusskriterien und wurden in die Übersichtsarbeit aufgenommen. Sechs Forschungsarbeiten stammten aus den Vereinigten Staaten, eine Studie aus Australien und eine Studie wurde länderübergreifend durchgeführt. Für die Einschätzung der Gesundheitskompetenz von Patient*innen wurden standardisierte Messinstrumente, wie der Rapid Estimate of Adult Literacy in Medicine(n=3), der Newest Vital Sign (n=1), der Single Item Literacy Screener (n=1), der Health Literacy Questionnaire (n=1), der Brief Health Literacy Screen (n=1) sowie die Kurzversion des Test of Functional Health Literacy in Adults (n=1) verwendet. In den vorliegenden Studien schätzten Ärzt*innen, Pflegefachkräfte, Sozialarbeiter*innen sowie Pharmazeut*innen die Gesundheitskompetenz ihrer Patient*innen ein. Die Einschätzung erfolgte anhand von Fragen, die sich an dem Messinstrument, das für Patient*innen verwendet wurde, orientierten (Bsp. REALM: „Basierend auf Ihrer heutigen Interaktion, wie schätzen Sie die Lesefähigkeit Ihres Patienten ein? “). In zwei Studien wurde eine Überschätzung und in einer Studie die Unterschätzung der patientenbezogenen Gesundheitskompetenz berichtet. In fünf Studien wurde sowohl eine Über- als auch Unterschätzung der Gesundheitskompetenz beschrieben: Gesundheitsprofessionen schätzten die Gesundheitskompetenz von Patient*innen mit adäquater Gesundheitskompetenz zu gering ein, die von Patient*innen mit inadäquater Gesundheitskompetenz als adäquat. Nur in einer Arbeit wurde eine adäquate Übereinstimmung berichtet.
Diskussion
Die Ergebnisse der Übersichtsarbeit verdeutlichen, dass Patient*innen und Gesundheitsprofessionen die patientenbezogene Gesundheitskompetenz unterschiedlich einschätzen. Aus Deutschland liegen dazu jedoch noch keine Daten vor. Eine Überschätzung der Gesundheitskompetenz durch Gesundheitsprofessionen kann zu Kommunikationsproblemen zwischen Patient*innen und Gesundheitsprofessionen führen. Durch die Fehleinschätzungen könnten in Gesprächen zwischen Gesundheitsprofessionen und Patient*innen ungeeignete Kommunikationstechniken angewendet und nicht auf die individuelle Gesundheitskompetenz der Patient*innen angepasste Informationen übermittelt werden.
Praktische Implikationen
Um Kommunikationsprobleme zwischen Patient*innen und Gesundheitsprofessionen zu vermeiden, sollten Gesundheitsprofessionen befähigt werden, adäquater auf die individuelle Gesundheitskompetenz von Patient*innen eingehen zu können. Daher sollten Kommunikationskonzepte zur Verbesserung der Kommunikationskompetenz von Gesundheitsprofessionen erarbeitet und implementiert werden.
Titel: Gesundheitskompetenz in der kardiologischen Rehabilitation – Entwicklung und Validierung eines Messinstruments
Hintergrund: Gesundheitskompetenz beschreibt das Wissen, die Motivation und die Fähigkeiten des Einzelnen, Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen und anzuwenden, um im täglichen Leben Entscheidungen zu treffen, die die Lebensqualität erhalten oder verbessern. Geringe Gesundheitskompetenz ist mit zahlreichen gesundheitlichen Risiken verknüpft. Ob und wie geringe Gesundheitskompetenz den Erfolg einer Rehabilitationshandlung beeinflusst, ist zurzeit noch ungenügend untersucht. So existieren zwar Instrumente zur Messung des Erfolgs einer Rehabilitation, allerdings gibt es keine spezifischen Instrumente zur Messung der für eine erfolgreiche kardiologische Rehabilitation notwendigen Gesundheitskompetenz. Ziel dieses Projekts ist die Entwicklung und Validierung eines Instruments zur Erhebung der Gesundheitskompetenz bei Patientinnen und Patienten in der kardiologischen Rehabilitation. Es gibt bisher noch kein deutsches Instrument zur Erfassung der spezifischen Gesundheitskompetenz von Patienten und Patientinnen mit kardiovaskulären Erkrankungen. Zudem sind alle derzeitig verfügbaren Instrumente aus Sicht von Experten und nicht aus Sicht von Patienten konzipiert worden. Aus diesem Grund wird in diesem Projekt der Patient aktiv in die Entwicklung des Fragebogens eingebunden.
Fragestellung: Welche Domänen der Gesundheitskompetenz identifizieren Patienten als essentiell für ihren Rehabilitationserfolg? Kann ein aus diesen Domänen entwickeltes Messinstrument als Ersatz für gängige Gesundheitskompetenzinstrumente dienen?
Methode: Patientinnen und Patienten wurden an einer Klinik für kardiologische Rehabilitation durch die behandelnden Ärztinnen und Ärzte für Fokusgruppen rekrutiert. Auf Grundlage dieser Fokusgruppen wurden Aspekte der Gesundheitskompetenz identifiziert und der Fragebogenentwicklung zu Grunde gelegt. Items zu den identifizierten Domänen wurden generiert und gemeinsam mit kardiologischen Wissensfragen, dem HLS-EU-16 zur Konstruktvalidierung sowie dem HADS-D von November 2018 bis April 2019 in einer kardiologischen Rehabilitationsklinik getestet. Die Teilnahme war freiwillig und wurde nicht vergütet.
Ergebnisse: Die Patienten identifizierten Wissen, Motivation, Verantwortungsübernahme bei der eigenen Gesundheit, die Fähigkeit Gesundheitsinformationen zu suchen und richtig zu interpretieren, als auch die Hilfe durch andere als wichtige Faktoren für ihren Rehabilitationserfolg. Ergebnisse der Fragebogendaten werden bis August 2019 erwartet. Vorläufige Ergebnisse zeigen eine hohe Teilnahmebereitschaft der Patienten.
Diskussion: Nach Abschluss des Projekts wird erstmalig ein deutschsprachiger Fragebogen zur Messung der aus Patientenperspektive erforderlichen Gesundheitskompetenz für die kardiologische Rehabilitation vorliegen. Dieser kann in einem weiteren Projekt auf prädiktive Validität im Zusammenhang mit Rehabilitationserfolg getestet werden.
Praktische Implikationen: Geringe Gesundheitskompetenz ist mit zahlreichen gesundheitlichen Risiken verknüpft. Durch die genauere Eingrenzung der Kompetenzen, die Patienten als wichtig betrachten, kann die kardiologische Rehabilitation zukünftig effektiver gestaltet werden und zu weniger Wiederaufnahmen führen.
Hintergrund: Angststörungen sind die häufigsten psychischen Erkrankungen. Die 12-Monats-Prävalenz einer sozialen Phobie liegt bei 2,7% (Jacobi et al., 2014). Häufig geht die soziale Phobie mit depressiven oder somatoformen Störungen einher. Zu den wirksamen Behandlungsmöglichkeiten zählen medikamentöse und psychotherapeutische Verfahren. Wenngleich die soziale Phobie die zweithäufigste Angststörung darstellt, findet sich die Diagnose nicht unter den häufig behandelten Diagnosen bei Fachärzten oder psychologischen Psychotherapeuten (Bandelow et al., 2014). Bislang ist wenig über die individuellen Determinanten der Inanspruchnahme spezifischer Therapien bekannt. Insbesondere mangelt es an Wissen über mögliche soziale Ungleichheiten und den Einfluss der individuellen Gesundheitskompetenz als Zugangsbarrieren.
Fragestellung: Ziel ist es daher, den Zusammenhang zwischen soziodemographischen Merkmalen sowie der individuellen Gesundheitskompetenz und dem Zeitraum zwischen der ersten Informationssuche bis zur Inanspruchnahme einer Therapie bei Personen mit sozialer Phobie zu untersuchen.
Methode: Hierzu wurde von 2017 bis 2018 eine Online-Befragung von N=311 Personen mit sozialer Phobie durchgeführt. Die Befragung wurde mit der Umfragesoftware SurveyMonkey durchgeführt. Die Befragung war Teil eines größeren Projekts und Forschungsverbunds zur Epidemiologie der sozialen Phobie (Social Phobia Research). Zur Messung der interaktiven Gesundheitskompetenz wurde die Subskala „Ability to actively engage with healthcare providers“ des HLQ-Fragebogens (Osborne et al., 2013) in der deutschen Adaptation (Nolte et al., 2017) eingesetzt. Soziodemographische Merkmale und der Zeitraum zwischen der ersten Informationssuche bis zur Inanspruchnahme einer Therapie wurden mit standardisierten faktischen Einzelitems erhoben. Die Daten wurden mit der Software SPSS analysiert. Neben deskriptiven statistischen Verfahren wurde explorative Korrelationsanalysen durchgeführt.
Ergebnisse: Die Befragten sind durchschnittlich 46 Jahre alt (20-81), 59% sind Frauen. Der Mittelwert der HLQ-Subskala liegt auf einer Antwortskala von 1 bis 5 bei 2,86. Der häufigste Zeitraum bis zur Inanspruchnahme ist 0-3 Monate (34,7%), gefolgt von 4-6 Monate (15,8%) und 7-12 Monate (8,4%) Bei einem Signifikanzniveau von ,01 finden sich signifikante Korrelationen zwischen dem Alter und dem Zeitraum bis zur Inanspruchnahme (r= ,197; p=,003) sowie der interaktiven Gesundheitskompetenz und dem Zeitraum bis zur Inanspruchnahme (r= -,235; p=,000). Das Geschlecht, der Familienstatus, die Schulbildung, der Zeitraum seit Diagnose sowie die Art der Krankenversicherung sind nicht signifikant mit dem Zeitraum bis zur Inanspruchnahme assoziiert.
Diskussion: Es handelt sich um eine explorative Querschnittsstudie, daher können die gefundenen Zusammenhänge nicht kausal interpretiert werden. Dennoch zeigen sich erste Hinweise auf soziale Ungleichheiten in Bezug auf den Zugang zu psychotherapeutischer oder medikamentöser Therapie bei Personen mit sozialer Phobie. Je älter die Personen und je geringer ihre Gesundheitskompetenz, desto mehr Zeit vergeht bis zur Inanspruchnahme einer Therapie.
Praktische Implikationen: Diese Hinweise sollten für weiterführende Analysen und die Erarbeitung von Empfehlungen genutzt werden, um zukünftig Zugangs- und Inanspruchnahmebarrieren für besonders vulnerable Personengruppen reduzieren zu können.