Erst seit wenigen Jahren bildet sich unter Psychotherapeuten langsam ein Bewusstsein dafür heraus, dass auch Menschen mit Intelligenzminderung Bedarf an qualifizierter Psychotherapie haben können, für den sich das psychotherapeutische Regelversorgungssystem zuständig sehen muss. Es ist noch nicht lange her, dass sogar von Psychotherapeuten entweder ein solcher Bedarf gänzlich geleugnet oder die Behandlungsfähigkeit pauschal bestritten wurden. Selbst wenn im Zuge wissenschaftlicher Evidenzen und nicht zuletzt auch infolge der zielgruppenspezifischen Neuregelungen des Gemeinsamen Bundesausschusses diese unbegründeten Auffassungen wenigstens theoretisch als erledigt angesehen werden dürfen, zeigen sich doch in der praktischen Umsetzung viele Probleme, deren Ursachen auf verschiedenen Ebenen liegen: Aus- und Weiterbildungsinhalte, Vergütungsaspekte, logistische Aspekte usw.
Das Symposium möchte aus unterschiedlichen Perspektiven diese Probleme beleuchten und Lösungsansätze suchen.
17:30 Uhr
Die Defizite der psychotherapeutischen Versorgung und die zielgruppenspezifischen Regelungen
Michael Seidel, Bielefeld (Germany)
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Michael Seidel, Bielefeld (Germany)
Menschen mit geistiger Behinderung (MmgB) bedürfen wegen überdurchschnittlich häufiger psychischer Störungen oft psychiatrischer und psychotherapeutischer Hilfen. Die Mehrzahl der insgesamt 400 – 800 000 MmgB in Deutschland könnten grundsätzlich bedarfsgerecht im psychiatrisch-psychotherapeutischen Regelversorgungssystem versorgt werden, wenn dieses ihnen bedarfsgerecht zugänglich wäre.
Erfahrungsgemäß treffen MmgB im Bereich der Psychotherapie auf vielfältige Barrieren. Es mangelt an der Bereitschaft, sich dieser Patientengruppe zu widmen und auf den Aufwand einzustellen. Viele Psychotherapeut*innen fürchten, ihnen nicht gerecht zu werden. Es fehlen Erfahrung und weitestgehend zielgruppenbezogene Inhalte in der Aus-, Weiter- und Fortbildung. Abhilfe zu schaffen obliegt vor allem den Psychotherapeutenkammern und die psychotherapeutischen Weiterbildungsinstitute unabhängig von ihrer Ausrichtung. Das Thema gehört in die Curricula, ebenso in die Approbationsordnung des Psychotherapie-Studiums.
Der GBA hat auf den ungedeckten Bedarf reagiert und mit den zusätzlichen Regelungen für MmgB in der Psychotherapie-Richtlinie vom 18.10.2018 dem Thema seine grundsätzliche Bedeutung zuerkannt und verbesserte Rahmenbedingungen geschaffen.
Für Menschen mit schwererer geistiger Behinderung und komplexen Beeinträchtigungen braucht es Psychotherapeut*innen mit zielgruppenspezialisierten Kompetenzen, eingebunden in interdisziplinäre Arbeitszusammenhänge. Die seit 2015 möglichen Medizinischen Behandlungszentren für Erwachsene mit geistiger und schwerer Mehrfachbehinderung (MZEB) könnten hierfür den Rahmen bieten. Allerdings schreitet deren Entwicklung sehr langsam voran und wird durch die vielfältigen Widerstände in Krankenkassen und Selbstverwaltung behindert – im Widerspruch zur UN-Behindertenrechtskonvention, die seit 2009 in Deutschland unmittelbar geltendes Recht ist.
17:40 Uhr
Erfahrungen aus der Versorgungspraxis
Franziska Gaese, München (Germany)
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Franziska Gaese, München (Germany)
Die Erfahrung zeigt: es kommen Patienten und sie kommen meist nicht alleine. Der Vortrag skizziert anhand von zwei Fallbeispielen Möglichkeiten und Grenzen in der psychotherapeutischen Arbeit mit Menschen mit Intelligenzminderung in der Versorgungspraxis.
Der Vortrag folgt zwei Fragen:
1. Worin liegen - neben wichtigen Gemeinsamkeiten in der psychotherapeutischen Arbeit mit Menschen mit und ohne Intelligenzminderung - Hinweise für Unterschiede aus der Perspektive der TherapeutIn?
2. Wie sind Ausbildung und Vergütung unter diesen Gesichtspunkten zu bewerten?
Der Vortrag erhebt keinem Anspruch auf Allgemeingültigkeit und erschöpfende Darstellung, sondern möchte ein Blitzlicht liefern. Explizites Anliegen ist es Kollegen, Akteure und Entscheidungsträger für Geleistetes zu würdigen und weiter zu sensibilisieren.
17:50 Uhr
Situationsbewertung und Handungsoptionen aus Sicht der Bundespsychotherapeutenkammer
Jan Glasenapp, Schwäbisch Gmünd (Germany)
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Jan Glasenapp, Schwäbisch Gmünd (Germany)
Psychotherapeutische Hilfen für Menschen mit Intelligenzminderung und die sie begleitenden Systeme haben sich in überlappenden Schritten entwickelt, die nur grob skizziert werden:
1. Feststellung psychischer Erkrankungen von Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörungen und geeigneter Assessmentverfahren.
2. Entwicklung und Adaption von therapeutischen Verfahren und Methoden sowie deren Evaluation.
3. Schaffung rechtlicher Rahmenbedingungen der Gesundheitsfürsorge behinderter Menschen.
4. Förderung flächendeckender Versorgungsstrukturen.
5. Verankerung spezifischer Kompetenzen in der Aus- und Weiterbildung von Psychotherapeut*innen.
Die Bundes- sowie die verschiedenen Landespsychotherapeutenkammern haben die Notwendigkeit der Verbesserung der psychotherapeutischen Versorgung intelligenzgeminderter Menschen erkannt und in den vergangenen Jahren Maßnahmen im berufsrechtlichen Bereich eingeleitet. Mit der verabschiedeten Novellierung des Psychotherapeuten-Gesetzes besteht zukünftig die Möglichkeit, für die Behandlung des Personenkreises erforderliche spezifische Kompetenzen in der Approbationsordnung und Weiterbildungsordnung zu verankern. Darüber hinaus konnten zuletzt mit der Anpassung der Psychotherapie-Richtlinie sozialrechtlich weitere Versorgungsverbesserungen angestoßen werden.
18:00 Uhr
Aktuelle Situation und Entwicklungsbedarf aus Sicht der Kassenärztlichen Bundesvereinigung
Christina Schilling, Berlin (Germany)
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Christina Schilling, Berlin (Germany)
Die psychotherapeutische Versorgung von Patient*innen mit Intelligenzminderung im Rahmen der Psychotherapie-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), i.e. im ambulanten Sektor des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), hat in der jüngeren Vergangenheit zunehmend Aufmerksamkeit erhalten. Zentrale Frage dabei war, ob die bisherigen Anstrengungen bereits ausreichten, um die besonderen Behandlungsbedarfe dieser Patientengruppe zu adressieren.
Im Zuge der sogenannten Strukturreform der Psychotherapie-Richtlinie wurden die Behandlungsbedarfe von Patient*innen mit Intelligenzminderung beraten. Der Diskurs hierüber mündete in einer eigenen Beschlussfassung des G-BA zu diesem Gegenstand (2018). Im Ergebnis wurde für diese Patientengruppe ein höheres Stundenkontingentvorgesehen. Überdies wurden die Möglichkeiten zur Einbeziehung von Bezugspersonen ausgeweitet.
Seitdem werden die Belange von Patient*innen mit Intelligenzminderung auch bei weiterführenden Beratungen wie etwa der Aktualisierung der Psychotherapie-Vereinbarung (2020, Anlage 1 zum Bundesmantelvertrag-Ärzte, BMV-Ä) bei der Ausgestaltung der Rahmenbedingungen für ambulante Psychotherapie im GKV-System berücksichtigt. Zudem findet das Thema Eingang in die Initiative des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) zur Weiterentwicklung von psychiatrisch psychotherapeutischen Hilfen für psychisch erkrankte Menschen.
Eigene Auswertungen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) von Leistungsdaten erlauben ein erstes Skizzieren des Status quo. Insgesamt deutet sich an, dass Patient*innen mit Intelligenzminderung einen eher geringen Anteil an der Gesamtzahl der Patient*innen, welche im Rahmen der Psychotherapie-Richtlinie behandelt werden, ausmachen.
Der Symposiumsbeitrag der KBV möchte zur Diskussion der Hintergründe der aktuellen psychotherapeutischen Versorgung von Menschen mit Intelligenzminderung anregen, um potentielle Einflussmöglichkeiten hierauf erörtern zu können.