Die meisten psychischen Störungen gehen mit emotionalen, motivationalen und kognitiven Beeinträchtigungen einher. Gleichzeitig treten diese Beeinträchtigungen auch als unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) unter Psychopharmakotherapie auf. In funktionell-bildgebenden Untersuchungen konnte die pharmakologische Modulation von neurofunktionellen motivationalen, emotionalen und kognitiven Komponenten durch Psychopharmaka aufgeklärt werden. Diese Untersuchungen bilden eine erste Grundlage für mögliche neurofunktionelle Mechanismen zur Ätiopathogenese dieser UAWs. Gerade im Hinblick auf die aktuelle Diskussion zu Absetz- und Entzugsphänomenen von Antidepressiva ist festzuhalten, dass die Beeinträchtigungen bei einigen Betroffenen auch noch Jahre nach dem Absetzen persistieren können. Das bekannteste Beispiel hierfür ist das Syndrom ‚Post SSRI Sexual Dys-function‘ (PSSD), das neben einer sexuellen Funktionsstörung auch eine reduzierte emotionale Reaktivität sowie kognitive und neurologische Symptome umfasst. Erste Fallberichte wurden bereits in den 90er Jahren veröffentlicht; im Juni 2019 entschied die European Medici-nes Agency, dass die betroffenen Produktinformationen angepasst werden müssen.
Trotz der Evidenz zu persistierenden UAWs werden die Beschwerden in der ärztlichen Konsultation oftmals nicht berücksichtigt. Für die Betroffenen gehen die Beschwerden jedoch mit einer Beeinträchtigung in mehreren Lebensbereichen und einer deutlichen Reduktion der Lebensqualität einher. Betroffene sehen sich oftmals mit der Empfehlung einer erneuten Verordnung von Psychopharmaka konfrontiert. In diesem Symposium sollen daher nicht nur Ergebnisse der neurofunktionellen Untersuchungen zur monoaminergen Neuromodulation motivationalen Verhaltens und sexueller Reaktionen vorgestellt werden. Durch die Beiträge zweier Betroffener sollen diese Ergebnisse durch Berichte hinsichtlich der alltäglichen Beeinträchtigungen in einen klinischen Kontext gestellt werden.
17:30 Uhr
Pharmakologische Modulation neurofunktioneller Signaturen sexueller Motivation
Heiko Graf, Ulm (Germany)
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Heiko Graf, Ulm (Germany)
Sexuelle Funktionsstörungen unter antidepressiv wirksamer Medikation sind eine bekannte unerwünschte Arzneimittelwirkung (UAW) mit erheblichen Auswirkungen auf Lebensqualität und Therapieadhärenz der Betroffenen. Trotz der großen klinischen Relevanz waren die zentralen Mechanismen der Entstehung sexueller Funktionsstörungen unter Psychopharmakotherapie lange Zeit nicht hinreichend bekannt. Im Rahmen eines Forschungsprogramms untersuchten wir gesunde männliche Probanden mit pharmakologisch gestützter funktioneller Magnetresonanztomographie (pharmako-fMRT) und visueller Stimulation nach experimenteller Modulation des Dopamin-, Noradrenalin- und Serotonin-Systems, um mono-/katecholaminerge Prinzipien der Neuromodulation auf neuronale Signaturen sexueller Stimulation aufzuklären. Zusammenfassend zeigte sich unter serotonerger sowie noradrenerger Stimulation eine verminderte Responsivität neurofunktioneller Signaturen motivationalen Verhaltens bei einer wiederum erhöhten neurofunktionellen Aktivierung unter dopaminerger Stimulation. In Übereinstimmung hierzu zeigten sich verminderte subjektive sexuelle Funktionen unter serotonerger und noradrenerger Stimulation, während diese wiederum unter dopaminerger Stimulation unbeeinträchtigt oder sogar erhöht waren. Mit diesen Befunden kann daher ein neurofunktionelles Modell zur Neuromodulation sexueller Motivation und zu neurofunktionellen Mechanismen der Entstehung sexueller Funktionsstörungen unter antidepressiv wirksamer Medikation vorschlagen werden.
17:45 Uhr
Persistierende Beeinträchtigungen nach Psychopharmakotherapie: das Syndrom der Post SSRI Sexual Dysfunction aus Betroffenensicht
Sandra Bähr, Köln (Germany)
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Sandra Bähr, Köln (Germany)
Die Einnahme von Psychopharmaka wie Antipsychotika oder Antidepressiva ist mit unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) verbunden, von denen man bislang davon ausging, dass sie nach dem Absetzen nicht fortbestehen. Studien geben jedoch erste Hinweise darauf, dass Psychopharmaka zu UAW führen können, die auch nach dem Absetzen persistieren. Das bekannteste Beispiel hierfür ist das Syndrom Post SSRI Sexual Dysfunction, das erstmals in den 1990er-Jahren beschrieben wurde.
Wenngleich Absetz- und Reboundphänomene nach der Einnahme von Psychopharmaka in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus gerückt sind (vgl. Henssler et al., 2019), mangelt es bezüglich dauerhaft persistierender UAW wie dem PSSD-Syndrom an Problembewusstsein und Wissen. Dieser Mangel an Wissen drückt sich vor allem in den folgenden Fragen aus, die in der therapeutischen Kommunikation zu Missverständnissen und Fehleinschätzungen führen: Wann und wie treten PSSD-Symptome auf? Welche Symptome treten auf? Wer ist betroffen? Welche Arzneimittel können PSSD auslösen? Inwiefern ist die Bezeichnung Post SSRI Sexual Dysfunction irreführend?
Bei der Beantwortung dieser Fragen ist aus Betroffenensicht Folgendes zentral: Erstens zeigen sich unterschiedliche Verlaufsformen und Ausprägungen des Syndroms. Zweitens ist der Begriff Post SSRI Sexual Dysfunction in hohem Maße irreführend, da a) die Debatte auf Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer beschränkt, und b) das Syndrom auf sexuelle Funktionsstörungen reduziert wird. Ziel dieses Beitrags ist es daher, die eingeschränkte Sichtweise aufzubrechen, um zukünftig eine systematische Auseinandersetzung mit dem PSSD Syndrom unter Berücksichtigung seiner Komplexität zu ermöglichen.
Folgende Aspekte des Post SSRI Sexual Dysfunction Syndroms werden thematisiert: Verlaufsformen und Ausmaß der Symptome, Darstellung der einzelnen Symptome anhand einer explorativen Umfrage, Blick auf die verengte Darstellung in der Fachliteratur sowie Darstellung möglicher Forschungsfragen.
18:00 Uhr
Post SSRI Sexual Dysfunction: Auswirkungen auf Alltag und Lebensqualität, Herausforderungen und Lösungsansätze für die therapeutische Kommunikation
Philipp Bruns, Rothenburg ob der Tauber (Germany)
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Philipp Bruns, Rothenburg ob der Tauber (Germany)
Anhand der bisher veröffentlichten Artikel und Studien zum Post SSRI Sexual Dysfunction Syndrom wird deutlich, dass der Begriff PSSD irrtümlicherweise lediglich eine sexuelle Dys-funktion suggeriert. Es ist jedoch bekannt, dass SSRI unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) auf kognitiver, emotionaler (vgl. Price et al., 2009) sowie neurologischer Ebene verursachen können. Diese UAW spiegeln sich in sämtlichen Ebenen des beruflichen sowie privaten Kontextes wider.
Betroffene berichten über Sorgen, den Anforderungen des Alltags nicht mehr gerecht werden zu können, sowie über Persönlichkeitsveränderungen durch Anhedonie bzw. reduzierte positive und negative emotionale Reaktivität. Auch kommt es, bedingt durch Apathie und emotionale Abstumpfung („Zombiegefühl“), vermehrt zu Suizidgedanken oder sogar Suizid.
In einer explorativen Erhebung der PSSD Hilfe Deutschland e. V. (n = 40) gaben 28 Befragte an, dass die konsultierten Ärzte oder Psychologen ihr Anliegen nicht ernstgenommen hätten. Zudem verstärken mangelnde Behandlungsmöglichkeiten den Leidensdruck. Insgesamt ist davon auszugehen, dass seit der Zulassung des ersten SSRI Fluvoxamin im Jahr 1984 die Zahl der PSSD-Betroffenen kontinuierlich ansteigt. Dies spiegelt sich nicht zuletzt in einer steigenden Zahl an Beiträgen in Online-Foren- bzw. Online-Selbsthilfe-Gruppen wider.
Die PSSD Hilfe Deutschland e. V. hat sich u. a. zur Aufgabe gemacht, bei Fachleuten ein Bewusstsein zu schaffen und Forschung zu initiieren und zu begleiten. Hinsichtlich der Schwierigkeiten in der therapeutische Kommunikation wird auf die folgenden Lösungsansätze eingegangen: offenes Anamnesegespräch ohne voreilige Stigmatisierung aufgrund bekannter Komorbiditäten, Transparenz und Aufklärung bezüglich möglicher Ursachen für die Beschwerden, systematische Befragung/Untersuchung zum Ausschluss etwaiger anderer Ursachen, Vermittlung an entsprechende Fachärzte.