In der Psychotraumatologie existieren viele Felder, die einerseits eine erhebliche Bedeutung für die klinische Praxis besitzen, andererseits zu Unsicherheiten und Kontroversen im Umgang mit der jeweiligen Thematik führen. Ein Beispiel ist die immer wieder aufflammende Debatte um das Traumagedächtnis, die Beeinflussbarkeit von Gedächtnisinhalten durch Therapie und deren Rolle in Gerichtsverfahren oder hochstrittigen Beziehungen. Eng damit verbunden ist die Kontroverse um die Dissoziative Identitätsstörung, die mit der Beschreibung im ICD-11 eine neue diagnostische Qualität erhält. Ähnlich verhält es sich mit der Konfrontation mit organisierter und ritueller Gewalt, eine Form planmäßiger und systematisch ausgeführter körperlicher und psychischer Gewalt. Das Jahr 2021 gibt mit 20 Jahre 9/11, 5J Breitscheidplatz und ein Jahr Hanau aber auch Anlass zusätzlich zu diesen sehr komplexen Themen sich der Kultur des Gedenkens und deren Implikationen zu widmen. Das Referat Psychotraumatologie lädt ein zur Diskussion und zum Erfahrungsaustausch in der Psychotraumatologie mit einem Vortrag zu „Kontroversen rund um das Traumagedächtnis“ von Julia Schellong aus Dresden, Ursula Gast setzt sich mit dem Thema „Stigma und Tabu in der Kontroverse um die dissoziative Identitätsstörung“ auseinander, Ingo Schäfer diskutiert die Frage „Organisierte Gewalt. Ein Thema für die Klinik vernachlässigtes Thema?“ und Olaf Schulte-Herbrüggen schließt mit Überlegungen zur „Dialektik des Gedenkens – Validierung UND Stagnation?
Kontroversen rund um das Traumagedächtnis
Julia Schellong, Dresden (Germany)
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Autor:in:
Julia Schellong, Dresden (Germany)
Das Nebeneinander von intensivem unwillentlichem Auftreten von Erinnerungen (z.B. intrusives Erleben) und die Beeinträchtigung im willentlichen Abruf traumatischer Gedächtnisinhalte (z.B. inkohärente und fragmentierte Erinnerungen) nach traumatischen Erlebnissen ist Teil der Symptomatik der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Dabei ist gut etablierter therapeutisch-technischer Konsens, dass wiedergewonnene Erinnerungen an ein Trauma echt, falsch oder eine Mischung aus beidem sein können. Neue traumatische Erinnerungen treten in vielen verschiedenen Therapieformen auf, auch in solchen, die nicht traumafokussiert arbeiten, keine suggestiven Techniken verwenden oder sich auf das Konzept der Verdrängung stützen.
Traumafokussierte Therapie zielt darauf ab, individuelle Not durch belastende Gedächtnisinhalte zu lindern. Hierbei ist die subjektive Bewertung von Erinnerungen an Ereignisse und die damit verbundenen Belastungen deutlich relevanter als deren aussagetechnischer Wert. Aufarbeitungsprozesse, Gerichtsverfahren und Entschädigungsbegutachtungen stellen hingegen Anforderungen an die Fähigkeit von erwachsenen und kindlichen Zeugen, sich genau an Ereignisse aus der Vergangenheit zu erinnern und zuverlässig auszusagen. Hier wird seit mehr als 100 Jahren kontrovers diskutiert.
Nach einer Zusammenfassung vergangener und aktueller Diskussionswellen rund um das Traumagedächtnis in den unterschiedlichen Kontexten wird das Zusammenspiel von Anforderungen in Aufarbeitungsprozessen und Gerichtsverfahren versus traumafokussierte Psychotherapie als leitlinienempfohlenes Behandlungsverfahren bei PTBS in den Fokus genommen und Schlussfolgerungen für die Praxis gezogen.
Stigma und Tabu in der Kontroverse um die Dissoziative Identitätsstörung
Ursula Gast, Mittelangeln (Germany)
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Ursula Gast, Mittelangeln (Germany)
Hintergrund: Die Dissoziative Identitätsstörung (DIS) bzw. Multiple Persönlichkeitsstörung wird seit Beginn der Psychiatrie als Trauma-assoziierte Störung beschrieben und hat 1980 Eingang in das DSM gefunden. Gleichwohl wird sie mit professioneller Skepsis betrachtet und ihre Validität immer wieder in Frage gestellt. So beschreibt die ICD 10 sie als selten sowie möglicherweise iatrogen und kulturspezifisch. Im Beitrag werden diese und weitere Vorstellungen über das Krankheitsbild hinsichtlich möglicher Stigmatierungs-Prozesse untersucht. Es wird zudem skizziert, wie diese durch eine Neufassung in der ICD-11 überwunden werden können. Methode: Vorstellungen und Fakten zur DIS werden gegenübergestellt und Reviews gezeigt, welche die ICD-11 Entscheidung untermauern. Insbesondere werden die robusten Befunde zum Zusammenhang zwischen Kindheits-Traumata und Dissoziation beschrieben. Zudem wird auf der Basis eines traditionellen und weiterhin gültigen Diathese-Stress-Modells gezeigt, dass die von Janet herausgearbeiteten Annahmen der Persönlichkeits-Aufspaltungen bis heute Gültigkeit haben. Die sich daraus ableitenden klinischen Implikationen hinsichtlich Kategorisierung, Diagnostik und Therapie-Interventionen werden vorgestellt und diskutiert. Schlussfolgerung: Durch die Einführung der DIS in der ICD-11 wird der aktuellen Studienlage angemessen Rechnung getragen, dass es sich hierbei um ein valides Krankheitsbild handelt. Mit der partiellen DIS steht eine weitere Klassifikation zur Verfügung, welche ermöglicht, dass auch PatientInnen mit weniger schweren Ausprägungen angemessen diagnostiziert und den entsprechenden störungsspezifischen Therapieinterventionen zugeführt werden können. Die offizielle Anerkennung der Störung kann zudem neue Forschungsoptionen eröffnen und somit Stigmatisierungsprozessen wirkungsvoller begegnen.
Organisierte Gewalt – ein vernachlässigtes Thema?
Ingo Schäfer, Hamburg (Germany)
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Ingo Schäfer, Hamburg (Germany)
In den letzten Jahren sind die speziellen Bedarfe von Patientinnen und Patienten aus organisierten Gewaltkontexten vermehrt in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Unter anderem dazu Erkenntnisse durch die ab etwa 2010 aufgedeckten Fälle von Gewalt in unterschiedlichen, auch institutionellen Kontexten, in Deutschland beigetragen. Weiter wurden in den letzten Jahren regelhaft weitere Fälle von organisierten Gewaltstrukturen bekannt, wie zuletzt in Münster oder Bergisch Gladbach. In klinischen Kontexten, die an der Behandlung traumatisierter Patientinnen und Patienten beteiligt sind, werden die besonderen Anforderungen in der Versorgung Betroffener deutlich. Dies betrifft etwa die oft komplexen Traumafolgestörungen einschließlich dissoziativer Störungen, die besondere therapeutische Kenntnisse erfordern aber in den aktuellen Weiterbildungskontexten noch nicht ausreichend abgebildet sind. Hinzu kommen Vorurteile der Thematik gegenüber und Kontroversen die nicht immer nur sachlich geführt werden. Im Vortrag wird ein Überblick über den aktuellen Stand des Wissens zu organisierter Gewalt und der Versorgung Betroffener gegeben. Dabei werden auch die typischen Kontroversen in der Auseinandersetzung mit der Thematik aufgegriffen und beleuchtet.
Dialektik des Gedenkens – Validierung und Stagnation?
Olaf Schulte-Herbrüggen, Berlin (Germany)
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Olaf Schulte-Herbrüggen, Berlin (Germany)
Zahlreiche terroristische Anschläge haben im Jahr 2021 ein rundes Jubiläum und erfahren erneut öffentliche Aufmerksamkeit durch Gedenkveranstaltungen und Medien. Die Erinnerungskultur und –rituale unterscheiden sich von Regionen und Ländern deutlich. Weit verbreitet ist die Annahme, dass kollektives Gedenken eine Unterstützung oder sogar eine Notwendigkeit für Betroffenen und Hinterbliebene von belastenden Großereignissen wie Kriegen und Terroranschlägen darstellt. Im Vortrag wird auf die aktuelle Datenlage von Gedenken und psychischer Gesundheit eingegangen. Die Strategien der Erinnerungskultur werden in das Vorgehen evidenzbasierter traumatherapeutischer Theorien und Strategien eingeordnet und ihre Funktion diskutiert.