Die Digitalisierung erfasst mittlerweile weite Bereiche des täglichen Lebens und hält auch Einzug in das psychiatrisch-psychotherapeutische Fachgebiet. Die Möglichkeit, Informationen in digitale Daten zu übertragen und sie mit Hilfe neuer, leistungsstarker Computertechnologien verarbeiten zu können, verspricht umfassende Innovationen im Bereich der Forschung, Diagnostik und Versorgung. Das gilt insbesondere für den Einsatz lernender Algorithmen, die auf der Grundlage großer Datenmengen bislang unbekannte Zusammenhänge identifizieren und analysieren können. Gerade im psychiatrisch-psychotherapeutischen Fachgebiet werfen derartige Entwicklungen allerdings auch vielfältige ethische, rechtliche und soziale Fragen auf: Wie verändert sich unser Verständnis menschlichen Denkens, Erlebens und Verhaltens sowie unser Begriff psychischer Erkrankungen durch den Ansatz datengetriebener molekularbiologischer oder verhaltenswissenschaftlicher Forschung? Inwieweit kann Künstliche Intelligenz ärztliches Erkennen, Urteilen und Entscheiden im psychiatrisch-psychotherapeutischen Bereich unterstützen, ergänzen oder gar übertreffen und was bedeutet das für das professionelle Selbstverständnis und Handeln von Psychiaterinnen und Psychiatern? Inwieweit kann und sollte Künstliche Intelligenz bei der Betreuung und Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen genutzt werden und welche Besonderheiten der Mensch-Technik-Interaktion sind dabei zu berücksichtigen? Die Vorträge setzen sich mit fachlichen, ethischen und sozialen Aspekten Künstlicher Intelligenz in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Forschung und Praxis auseinander. Sie beruhen auf dem Themenheft S1/2021 „Ethik in der Psychiatrie – Zur Künstlichen Intelligenz“ aus der „Psychiatrische Praxis“, welches Beiträge von Forschenden und Praktizierenden aus Psychiatrie, Psychotherapie, Philosophie und Sozialwissenschaften versammelt.
Künstliche Intelligenz als Herausforderung und Chance für Psychiatrie und Psychotherapie
Knut Schnell, Göttingen (Germany)
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Autor:innen:
Knut Schnell, Göttingen (Germany)
Miriam Stein, Göttingen (Germany)
Ziel des Vortrags ist es, ein grundsätzliches Verständnis neu entstandener Potenziale von Künstlicher Intelligenz (KI) und Machine Learning (ML) Anwendungen und die dadurch entstehenden Anforderungen und Erwartungen an Psychiaterinnen und Psychiater zu vermitteln. Für die Gestaltung der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung der Zukunft gilt es zu verstehen, wie KI-Systeme und personalisierte Assistenten in Therapiesystemen von ihren Nutzern als Teil ihrer alltäglichen Lebensrealität wahrgenommen werden.
Der Beitrag liefert hierzu einen praxisbezogenen Überblick über Grundkategorien und Anwendungsfelder von KI und ML in Diagnostik, Prävention und Therapie psychischer Störungen.
Es ist zu erwarten, dass KI- und ML-Anwendungen die Diagnose und Behandlung sowie das ätiologische Grundverständnis psychischer Störungen neu prägen werden. Dabei ist zu beachten, dass die Therapie psychischer Störungen erheblich durch Anwendungen und Assistenzsysteme außerhalb des medizinischen Systems bestimmt werden könnte, da hier die Entwicklung auf größeren Datenmengen basiert und deutlich geringeren gesetzlichen Restriktionen unterliegt.
Um eine zukünftige Nutzbarkeit von diagnostischen und therapeutischen KI- und ML-Anwendungen innerhalb des ethischen und evidenzbasierten Rahmens der Medizin sicherzustellen, sollten Psychiaterinnen und Psychiater daher heute deren Entwicklung und Einsatz aktiv mitgestalten.
Zur Beziehungsgestaltung mit Künstlicher emotionaler Intelligenz – vom „Hier und Jetzt“ zum „Dort und Dann“
Wolfgang Jordan, Magdeburg (Germany)
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Autor:in:
Wolfgang Jordan, Magdeburg (Germany)
Ausgehend von der Frage, was Bewusstsein ist, werden eine neurobiologische und philosophische Perspektive beleuchtet. Im Diskurs wird oft das übersteigerte Sendungsbewusstsein des Menschen vernachlässigt, mit allen negativen Auswirkungen auf die Beziehung zu anderen Lebewesen oder einer Künstlichen Intelligenz (KI). Höhere Primaten bedürfen neben Nahrung auch emotionaler Nähe. Die Eltern-Kind-Beziehung führt zur Ausbildung von Empathie als menschliche Kernkompetenz und ist wichtig für das Zusammenleben. Menschen haben eine natürliche Tendenz, KI als empathisches Gegenüber wahrzunehmen. Die Beziehungsgestaltung in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird von der Idee des Humanismus geprägt. Getragen von diesem Konstrukt werden verschiedene Aspekte auf einer Zeitachse vom „Hier und Jetzt“ zum „Dort und Dann“ betrachtet. Die gegenwärtige Versorgungsrealität geht mit einer emotionalen Entfremdung einher. Eine voranschreitende Technologie und reduktionistische Vorstellungen können den Blick auf das psychische Kranksein in seiner Ganzheit erschweren. Jede (Kommunikations-)Technik wird Einzug in die Behandlung nehmen und Beziehungen verändern. Maschinen werden nicht menschlicher, sondern Menschen auf Maschinen reduziert. Die Liebe zu einem Roboter wird solipsistisch bleiben und zu einer verdinglichenden Einstellung führen. Der Transhumanismus birgt die Gefahr, dass die Menschen sich voneinander und ihrer Gattung entfremden. Neuronale Netzwerke sind Algorithmen, welche unabhängig von der Hardware (organische Kohlenstoffeinheiten = Mensch, nichtorganische Siliziumeinheiten = Computer, Mischung = Cyborg) funktionieren. Es wird verschiedene Wege geben, eine Superintelligenz zu erlangen. Dabei ist Intelligenz ein „Muss“ und Bewusstsein ein „Kann“. Wenn es zu einem Wandel von einem homo- zu einem datenzentrischen Weltbild kommt, könnte der Mensch sein Alleinstellungsmerkmal verlieren und die humanistischen Ziele von Gesundheit und Glück würden verloren gehen.