Psychiatrische Professionelle sind in ihrer täglichen Arbeit mit einer Vielzahl an ethischen Herausforderungen konfrontiert. Manche, jedoch nicht alle dieser Konfliktfelder sind auf die unmittelbare Arzt-Patienten-Beziehung beschränkt, während andere über diese hinausweisen und in unterschiedlichem Ausmaß mit systemischen oder gesellschaftlichen Faktoren zusammenhängen.
Das geplante Symposium verfolgt vor diesem Hintergrund das Ziel, unterschiedliche Ebenen ethischer Konfliktfelder bewusst zu machen und hierfür mögliche Lösungsansätze zu identifizieren (Vortrag von Jakov Gather). Anhand von konkreten ethischen Konfliktfeldern aus der psychiatrischen Versorgung sollen anschließend exemplarisch ethische Herausforderungen auf der Mikro-, Meso- und Makroebene erörtert sowie Möglichkeiten und Grenzen ihrer „Lösung“ im psychiatrischen Versorgungsalltag diskutiert werden (Vorträge von Anna Westermair, Tilman Steinert und Gerhard Längle).
(Wann) dürfen wir Patient*innen sterben lassen?
Anna Westermair, Basel (Switzerland)
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Autor:innen:
Anna Westermair, Basel (Switzerland)
Manuel Trachsel, Zürich (Switzerland)
Heute stehen für praktisch alle psychischen Störungen evidenzbasierte Behandlungsoptionen zur Verfügung. Leider sprechen manche Patient*innen nicht darauf an und leiden anhaltend an ihrer Erkrankung und deren biopsychosozialen Folgen. Je mehr Behandlungen scheitern, desto geringer werden die Erfolgsaussichten weiterer Behandlungsversuche. Gleichzeitig können Behandlungsversuche die Lebensqualität der Patient*innen weiter einschränken, beispielsweise durch unerwünschte Nebenwirkungen, Komplikationen oder durch die Anwendung von Zwang. Deswegen wird in den letzten Jahren zunehmend diskutiert, ob bei einzelnen, besonders schwer betroffenen Patientin*innen die Lebensqualität so schlecht und die Aussichten auf Besserung so gering sind, dass lebensverlängernde Massnahmen den Patient*innen keinen Nutzen mehr bringen, sondern ihren leidvollen Zustand nur verlängern. In solchen Fällen kann es ethisch gerechtfertigt, das Versterben an einer psychischen Erkrankung zuzulassen. Dieser Vortrag bietet eine Abwägung ethischer Prinzipien hinsichtlich dieser komplexen Frage am Beispiel der Anorexia nervosa.
Systemimmanente ethische Konflikte der Krankenhaus- und Stationsorganisation
Tilman Steinert, Ravensburg (Germany)
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Autor:in:
Tilman Steinert, Ravensburg (Germany)
In stark staatlich regulierten Gesundheitssystemen wie zum Beispiel Großbritannien sind Krankenhaus- und Stationstypen sehr einheitlich definiert und lassen wenig Gestaltungsspielräume. In Deutschland besteht dagegen ein kompliziertes Zusammenspiel zwischen staatlichen Vorgaben, Regulierungen und Überprüfungen und privatwirtschaftlicher Ausgestaltung der Gesundheitsversorgung. Dies lässt Gestaltungsspielräume und führt zu einer nicht selten produktiven Konkurrenz der Angebote und Lösungen. Zugleich eröffnet dies aber auf dieser Meso-Ebene auch viele ethische Konfliktfelder, derer sich die Verantwortlichen auf den verschiedenen Ebenen (von der Geschäftsführung bis zur Stationsleitung) bewusst sein sollten. Auch dabei finden sich die ethischen Prinzipien von Wahrung der Patientenautonomie, Handeln zum Wohl des Patienten, Schadensvermeidung und Ressourcengerechtigkeit wieder. Als Beispiele werden genannt Gemeindeorientierung und gleichmäßige Verteilung der Aufnahmen über die dann möglichst offen zu führenden Stationen versus Spezialisierungsangebote und Konzentration untergebrachter Patienten auf wenigen geschlossenen Stationen, gezielte versus gleichmäßige Personalallokation über die Stationen, relativ kleine gemeindenahe stationäre Einheiten versus Qualitätsansprüche, Schaffung eines förderlichen therapeutischen Milieus versus strikte Priorisierung ambulanter Behandlung, Investitionen vorhandener Mittel in Baumaßnahmen versus Personal oder Diagnostik, Priorisierung von Patienten- versus Beschäftigtenbedürfnissen, leitliniengerechte psychotherapeutische Interventionen für einige oder mehr Zuwendung für alle Patienten und Sicherheitsvorkehrungen versus Autonomieeinschränkungen und Außenwirkung. Wie typischerweise bei ethischen Konflikten ist keine Strategie primär besser oder schlechter, sondern es sind jeweils Vor- und Nachteile abzuwägen.
Ressourcengerechtigkeit in der psychiatrischen Versorgung
Gerhard Längle, Zwiefalten (Germany)
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Autor:in:
Gerhard Längle, Zwiefalten (Germany)
Ressourcengerechtigkeit in der psychiatrischen Versorgung:
Gleichstellung psychisch Kranker – Ziel verfehlt? oder verfehltes Ziel?
In der Psychiatrie-Enquete, die Mitte der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts die Missstände in der Psychiatrie in Deutschland beschrieben und Lösungsansätze entwickelt hat, ist als eine zentrale Forderung die Gleichstellung psychisch kranker Menschen mit den somatisch Kranken benannt. Heute würde man dies vielleicht als eine Forderung nach Ressourcengerechtigkeit bezeichnen. Diese Forderung war lange Zeit handlungsleitend für die Reformer*innen der psychiatrischen Kliniken und der psychiatrischen Versorgung insgesamt.
Der Beitrag zeigt auf, was konkret erreicht wurde und stellt doch die Zielsetzung kritisch in Frage. Reicht Ressourcengerechtigkeit aus? Ist Gleichheit das Ziel? Oder fordern andere Prinzipien wie das Handeln zum Wohle der Patient*innen und die Patient*innen-Autonomie nicht gerade besondere, psychiatriespezifische Konzepte, müssen von der Gleichartigkeit abweichen? Wo ist Psychiatrie mittlerweile weiter als die Somatik und kann Beispiel gebend sein - oder war dies auch schon in der Vergangenheit? Wenn wir psychiatrische Versorgung sinnvoll weiter entwickeln wollen, müssen wir uns diesen Fra-gen stellen.
Der Beitrag beleuchtet dazu Aspekte aus dem medizinischen Akut-Behandlungskontext, dem System der sozialen und beruflichen Rehabilitation, der Pflege und dem Schwerbe-hindertenrecht.