Das Problemszenario sexualisierter Gewalt ist nicht zuletzt durch die #MeToo-Debatte 2017 ins Zentrum der weltweiten Aufmerksamkeit gerückt. Auf Facebook verwendeten innerhalb der ersten 24 Stunden 4,7 Millionen Benutzer in über zwölf Millionen Postings dieses „Hashtag“ um Ihre Betroffenheit zu signalisieren und das Schweigen zu brechen. Sexualisierte Gewalt existiert in allen sozialen Schichten. Erst der offene Umgang macht das tatsächliche Ausmaß deutlich. Mit weitreichenden gesellschaftlichen, sozialen und gesundheitlichen Folgen vor allem auch in Form von psychiatrischen Folgeerkrankungen stellt uns sexualisierte Gewalt seit langem vor immense Herausforderungen. Das daraus resultierende Leid und die Reduktion der Lebensqualität, nicht bezifferbar. Nur die wenigsten Betroffenen bringen diese Erfahrungen zur Sprache.
In der psychiatrischen Praxis führt die Konfrontation sowohl mit Betroffenen sexualisierter Gewalt als auch der Kontakt mit Tätern oder tatgeneigten Klienten zu großen Herausforderungen. Hier liegt ein großes Potential zur langfristigen und nachhaltigen Reduktion von sexualisierter Gewalt und daraus resultierenden gesundheitlichen Konsequenzen für Betroffene. Im Rahmen des Symposiums sollen notwendige Informationen und Fertigkeiten zum kompetenten Umgang mit sexualisierter Gewalt in der psychiatrischen Praxis vermittelt und Erfahrungen aus innovativen von Bund, Ländern und GKV-Spitzenverband geförderten Präventionsprojekten geteilt werden.
Das Ausmaß sexualisierter Gewalt: aktuelle epidemiologische Daten, Entwicklungen und Folgerekrankungen
Tillmann H. C. Krüger, Hannover (Germany)
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Tillmann H. C. Krüger, Hannover (Germany)
Sexualisierte Gewalt und sexualisierter Machtmissbrauch beschreiben Handlungen mit sexuellem Bezug ohne Einwilligung bzw. Einwilligungsfähigkeit des Betroffenen wie z.B. sexuelle Nötigung, Vergewaltigung und sexueller Missbrauch von Kindern.
Epidemiologische Daten und die Folgen für Betroffene sind erschreckend. In Europa sah sich etwa jede dritte Frau in Europa seit ihrem 15. Lebensjahr körperlicher und/oder sexueller Gewalt ausgesetzt. Die PKS in Deutschland belegt für das Jahr 2020 rund 80.000 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Es ist eine Steigerung von knapp 17% im Vergleich zum Vorjahr. Dies steht im Kontrast zu einzelnen Befunden aus Deutschland, die auf unveränderte Prävalenzen interpersoneller Gewalt während der Pandemie hinwiesen. Eigene Erhebungen an der MHH hatten während des 1. Lockdowns eine 1-Monatsprävalenz interpersoneller Gewalt von 5% gezeigt. Der UNFPA Weltbevölkerungsbericht 2021 konstatiert ebenfalls eine Zunahme sexualisierter und geschlechtsbasierter Gewalt.
Die psychischen Auswirkungen sexueller Gewalterfahrungen auf Seiten der Betroffenen sind immens und bestimmen nahezu täglich unser psychiatrisches und psychotherapeutisches Handeln. Diese Zahlen fordern, dass in Psychiatrie und Psychotherapie nicht nur Behandlungsoptionen für Betroffene kontinuierlich verbessert, sondern auch die Anstrengungen in Richtung einer Verursacher orientierten Prävention und Behandlung intensiviert werden. Die meisten Professionellen tun sich jedoch schwer mit den Themen sexuelle Gesundheit/ sexualisierte Gewalt. Bei allen zu diskutierenden Defiziten der Ausbildungscurricula muss jedoch konstatiert werden, dass diese in ihren Grundzügen durchaus dazu befähigen sollten, Verantwortung zu übernehmen, Themen der sexuellen Gesundheit und sexualisierten Gewalt anzusprechen und Risikofaktoren für sexuelle Übergriffe zu adressieren oder Betroffene spezialisierten Behandlungsangeboten zuzuweisen.
Prävention sexuellen Kindesmissbrauchs: Erfahrung aus dem „Kein Täter werden“-Netzwerk und was davon in jeder psychiatrischen Praxis genutzt werden kann
Till Amelung, Berlin (Germany)
Was ist die Antwort der Psychiatrie und Psychotherapie auf #meToo? Erfahrungsberichte aus Modellprojekten
Jonas Kneer, Hannover (Germany)
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Jonas Kneer, Hannover (Germany)
Seit Oktober 2017 diskutieren Betroffene sexualisierter Gewalt weltweit unter #MeToo in sozialen Medien über ihre belastenden Erfahrungen. Über 25 Millionen Mal wurde seitdem #MeToo verwendet. Die Debatte zeigt, sexualisierte Gewalt ist kein Randphänomen und muss kein Tabuthema sein. Betroffene leiden oft unter massiven Störungen im Erleben und Verhalten, darunter u.a. Depressionen, Angsterkrankungen bis hin zu Suizidhandlungen. Die bestmögliche Behandlung von sexualisierter Gewalt Betroffener ist ein wichtiges Anliegen von Psychiatrie und Psychotherapie. Durch #MeToo konnten Betroffene zeigen, dass sexualisierte Gewalt ein Thema ist über das nicht nur gesprochen werden kann, sondern über das gesprochen werden muss.
Heute, vier Jahre später, ist das Bewusstsein für sexuelle Grenzen in der Öffentlichkeit gewachsen, mehrere für sexualisierte Gewalthandlungen Verantwortliche wurden zur Rechenschaft gezogen und Verhaltenskodizes zur Verhinderung von Machtmissbrauch und sexuellen Grenzüberschreitungen in vielen Unternehmen etabliert. Doch auch vier Jahre später hat #MeToo nicht an Aktualität verloren und zeigt noch immer täglich in sozialen Medien fortwährende sexuelle Grenzüberschreitungen.
Zur nachhaltigen Reduktion sexualisierter Gewalt müssen auch diejenigen erreicht werden, die für die Taten verantwortlich sind – frühzeitig, bevor Grenzen sexueller Selbstbestimmung Anderer überschritten werden. An der Medizinischen Hochschule Hannover wird das Potential psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung nicht nur für die bestmögliche Behandlung Betroffener, sondern auch für die täterorientierte Prävention sexualisierter Gewalt genutzt, indem Kompetenzen vermittelt werden, wie sexuelle Bedürfnisse auf eine sozial angemessene Art befriedigt werden können, ohne die Grenzen der sexuellen Selbstbestimmung Anderer zu verletzen.
Im Vortrag sollen die Erfahrungen aus 5 Jahren täterorientierter Prävention im I CAN CHANGE Projekt berichtet werden.