Zwanzig Jahre nach dem Ende des 20. Jahrhunderts betrachtet das Symposium Psychiatrie und psychisches Leid in dieser Epoche, die wie keine andere der Menschheitsgeschichte durch Extreme geprägt war. Bahnbrechende Fortschritte in Kommunikation, Raumfahrt, Computerisierung, Medizin und Gesellschaft gehören dazu wie Abermillionen Tote in zwei Weltkriegen, Weltwirtschaftskrise, Atombombe und Holocaust. Radikale Ideologien waren die Wurzel vieler Katastrophen.
Anhand der Suizidziffern zeichnet T. Bschor die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts nach. Er stellt Erklärungsansätze für unerwartete und widersprüchliche Entwicklungen der Suizidzahlen vor und analysiert die sich wandelnde gesellschaftliche Haltung zum Suizid.
S. Dörre beleuchtet anhand neuer eigener wissenschaftlicher Ergebnisse die noch wenig beforschten sogenannten Zwischenanstalten. Während der „T4-Aktion“ waren sie den Mordanstalten vorgeschaltet und hatten u. a. der planmäßigen Abwicklung der Aktion zu dienen. Nach dem offiziellen Stopp der Aktion 1941 wurden sie direkter Ort der „wilden“ oder „regionalisierten“ Patiententötungen. Dörre untersucht auch das Schicksal der dortigen Patienten in den ersten Nachkriegsjahren.
E. Kumbier gibt einen Überblick über die bisherige historische Aufarbeitung der Psychiatrie in der DDR und spürt u. a. der Frage nach, ob es eine eigenständige DDR-Psychiatrie überhaupt gab. Für die Darstellung der Entwicklung der Psychiatrie in der DDR werden verschiedene Entwicklungsetappen abgegrenzt und hinterfragt, ob und inwieweit ideologische Einflüsse und politische Rahmenbedingungen eine Rolle spielten.
Suizide in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ‒ Selbsttötungen in einer Epoche der Gewalt, Umbrüche und menschengemachter Katastrophen
Tom Bschor, Berlin (Germany)
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Tom Bschor, Berlin (Germany)
Die dramatischen Ereignisse und menschengenmachten Katastrophen des 20. Jahrhunderts lassen sich auch an den Suizidzahlen nachvollziehen. Aussagekräftige Suizidstatistiken liegen mit wenigen Ausnahmen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts vor.
Die Emanzipation der Frauen verläuft parallel zu einer Annäherung an die Suizidzahlen der Männer, wenngleich eine deutlich höhere männliche Suizidmortalität bis heute besteht. Im Kaiserreich ging das Suizidmotiv „Not“ mit der Sozialgesetzgebung zurück; psychische Erkrankungen als Ursache wurden zunehmend erfasst. Die höheren Suizidzahlen von Protestanten im Vergleich zu Katholiken führten zu heftigen Debatten. Während des 1. Weltkriegs –und in abgeschwächter Form auch zu Beginn des 2.– sanken die Suizide bei Männern drastisch. In der Weimarer Republik stiegen die Suizidzahlen dann parallel zu Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise wieder stark an.
In der nationalsozialistischen Ideologie wurde Suizid einerseits als egoistische Verweigerung gegenüber dem Gemeinwohl abgelehnt, andererseits als Ausdruck eines „biologischen Defekts“ mit der Folge einer „natürlichen Ausmerze“ betrachtet. Führende Nationalsozialisten und NS-Psychiater entzogen sich dennoch am Kriegsende ihrer Verantwortung durch Suizid. Eine mit allen anderen Epochen unvergleichbare Höchstzahl erreichten die Suizide unter der jüdischen Bevölkerung seit Beginn der Deportationen 1941. Ein Suizid war oft der letzte verbliebene Ausdruck von Autonomie und Widerstand gegen die nationalsozialistische Vernichtungspolitik. Mit Kriegsende kam es dann auch bei der übrigen deutschen Bevölkerung zu Suizidwellen.
Die historische Betrachtung zeigt, dass Suizide keineswegs nur im Rahmen psychischer Erkrankungen vorkommen, sondern massiv durch äußere Faktoren beeinflusst werden. Die recht validen Suizidzahlen können für die Bewertung historischer, politischer und gesellschaftlicher Prozesse als eine wichtige Informationsquelle herangezogen werden.
Psychiatrie in der DDR ‒ eine Bestandsaufnahme
Ekkehardt Kumbier, Rostock (Germany)
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Ekkehardt Kumbier, Rostock (Germany)
Mittlerweile wurden wichtige Schritte in Richtung einer differenzierten Auseinandersetzung mit dem Thema „Psychiatrie in der DDR“ gegangen. Die bisherige historische Aufarbeitung wird in einem Überblick beschrieben. Für die Darstellung der Entwicklung der Psychiatrie in der DDR werden verschiedene Entwicklungsetappen abgegrenzt und hinterfragt, ob und inwieweit ideologische Einflüsse und politische Rahmenbedingungen eine Rolle spielten. Anhand der Reformansätze in den 1960er und 1970er-Jahren wird exemplarisch gezeigt, welche Handlungsspielräume die in den psychiatrischen Institutionen Tätigen innerhalb des staatlichen Gesundheitswesens hatten und nutzen konnten.
Zudem wird in den einführenden Bemerkungen die grundsätzliche Frage diskutiert, inwieweit es überhaupt die DDR-Psychiatrie gab, die sich eigenständig entwickelte und von der anderer Länder, insbesondere der Psychiatrie in der BRD unterschied. Nach dem derzeitigen Wissensstand muss davon ausgegangen werden, dass sich keine eigenständige, isolierte oder gar kommunistische „DDR-Psychiatrie“ herausbildete. Vielmehr folgte sie als Fachgebiet der internationalen Entwicklung, wenngleich sie von den in der DDR bestimmenden gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen beeinflusst wurde, die staatlichen und damit politisch-ideologischen Einflüsse unterlagen und mit der Tendenz zur Entmündigung und staatlichen Kontrolle einherging.