Raum:
Saal A4 (Stream/on Demand)
Topic:
Wissenschaftliches Programm
Topic 05: Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen, F4
Stream/on Demand
Format:
Symposium
Dauer:
90 Minuten
Besonderheiten:
Q&A-Funktion
Ausgehend von den USA gab es in den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts vermehrte Berichte über rituelle körperliche und sexuelle Gewalt, ausgeführt von „satanistischen“ Zirkeln, die als „Satanic Panic“ Eingang in die Literatur gefunden haben. Viele der Fälle wurden mit der Diagnose Dissoziative Identitätsstörung in Verbindung gebracht. Bis heute halten sich diese Narrative, Ärztinnen und Ärzte sowie Psychologinnen und Psychologen stellen entsprechende Diagnosen und bieten Behandlungen an. In der Schweiz und in Deutschland wurden aktuelle Einzelfälle publik, in denen davon auszugehen ist, dass Patientinnen und Patienten durch diese Behandlungen Schaden genommen haben.
In diesem Symposium wollen wir uns der Thematik mithilfe vorliegender empirischer Evidenz, Berichten aus Beratungskontexten und Strafverfolgung zuwenden.
Eingangs gibt Stefan Röpke einen Überblick über die historische Entwicklung und die aktuelle Definition der Dissoziativen Identitätsstörung und Ihren Bezug zum Konzept ritueller Gewalt.
Kathlen Priebe stellt die empirischen Daten vor, die wir zur Dissoziativen Identitätsstörung zur Verfügung haben.
Axel Seegers stellt die Perspektive des Weltanschauungsbeauftragten vor, der in seiner täglichen Arbeit Menschen berät, die von entsprechenden Erfahrungen berichten.
Renate Volberts beschreibt basierend auf vorliegenden Forschungsergebnissen den Prozess, der zur Entstehung einer Scheinerinnerung führt. Dabei wird insbesondere auf mögliche Einflüsse im Rahmen therapeutischer Interaktionen eingegangen. Abschließend wird erörtert, ob sich einmal entstandene Scheinerinnerungen von genuinen Erinnerungen unterscheiden lassen.
Petra Hasselmann betrachtet „rituelle Gewalt“ aus kriminalistisch-kriminologischer Sicht. Sie geht dabei insbesondere auf ihre Forschungsergebnisse zu Erwartungshaltungen selbstdefinierter Betroffener an Akteure im Hilfesystem ein.
Insgesamt hoffen wir mit unserem Symposium zu einer sachlichen und objektiven Betrachtungsweise der Thematik beitragen zu können.
17:15 Uhr
Die dissoziative Identitätsstörung – historische Entwicklung und Definition
S. Röpke (Berlin, DE)
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Autor:in:
S. Röpke (Berlin, DE)
Die Entstehung der Diagnose „Multiple Persönlichkeitsstörung“ bzw. „Dissoziative Identitätsstörung“ ist eng an die Herausbildung der modernen Psychotherapie im 19. Jahrhundert gekoppelt. Seit Eingang in die Diagnosehandbücher haben die definierenden Kriterien der Störung trotz geringer empirischer Evidenz bedeutsame Veränderungen erfahren.
In den 1980er Jahren gab es ausgehend von den U.S.A. erschütternde Berichte über „satanistische rituelle“ Gewalt, die in vielen Fällen mit der Diagnose Multiple Persönlichkeitsstörung bei den Betroffenen in Verbindung gebracht wurde. Die überwiegende Mehrzahl dieser Berichte hielt kriminologischer und juristischer Prüfung nicht stand und muss retrospektiv als unwahr eingestuft werden. Die Ereignisse haben als „satanic panic“ Eingang in die Geschichtsschreibung gefunden.
Trotz fehlender empirischer Evidenz leben diese Narrative im deutschsprachigen Raum bis heute fort, wie jüngste Fälle in Schweizer Klinken aufzeigen. In dieser Übersicht soll die Entwicklung der Dissoziativen Identitätsstörung von den Anfängen im Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts bis hin zum DSM-5 und ICD-11 nachgezeichnet werden und der Zusammenhang zum Narrativ „satanistischer ritueller“ Gewalt aufgezeigt werden.
17:51 Uhr
Rituelle Gewalt – Herausforderung für Therapie und Beratung
A. Seegers (München , DE)
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Autor:in:
A. Seegers (München , DE)
Abstract
Seit gut zwei Jahrzehnten gibt es im deutschsprachigen Raum Diskussionen um so genannte „Rituelle Gewalt“. Anfangs nur in kleinen Fachkreisen findet ein Schlagabtausch mittlerweile in der breiten Öffentlichkeit statt. Die begriffliche Unschärfe, was unter Rituelle Gewalt zu verstehen ist, befeuert die Auseinandersetzungen und mündet oft in ideologische Grabenkämpfe. Vorwürfe und Verdächtigungen sowie Forderungen nach einem eindeutigen Bekenntnis nötigen vielen Beratungsstellen und Therapeut:innen eine Positionierung ab, obwohl sie meist nicht mit den Details vertraut.
Betroffene, die um Hilfe bitten, sprengen sehr schnell den Rahmen von Beratung und Therapie. Die Monstrosität der Berichte, Multimorbidität, Vermutungen über kriminelle Netzwerke aber auch häufig eine fordernde Erwartungshaltung bringen professionelle Settings schnell an ihre Grenzen.
Ein einfaches Für oder Wider verbietet sich, weil das Narrativ „Rituelle Gewalt“ aus einer Vielzahl von Einzelthesen mit sehr unterschiedlichen Plausibilitäten besteht. Ein erster notwendiger Schritt ist die begriffliche Klärung und eine fachliche Überprüfung der einzelnen Thesen. Kriterien gewonnen aus der praktischen Erfahrung mit Betroffenen sollen Hinweise geben für den professionellen Umgang in Beratung und Therapie.
18:09 Uhr
Scheinerinnerungen und Suggestion in der Psychotherapie
R. Volbert (Berlin, DE)
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Autor:in:
R. Volbert (Berlin, DE)
Basierend auf vorliegenden Forschungsergebnissen wird der Prozess beschrieben, der zur Entstehung einer Scheinerinnerung führt. Dabei wird insbesondere auf mögliche Einflüsse im Rahmen therapeutischer Interaktionen eingegangen. Abschließend wird erörtert, ob sich einmal entstandene Scheinerinnerungen von genuinen Erinnerungen unterscheiden lassen.
18:27 Uhr
Rituelle Gewalt aus kriminologisch-kriminalistischer Sicht
P. Hasselmann (Bremen, DE)
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Autor:in:
P. Hasselmann (Bremen, DE)
Sogenannte „rituelle Gewalt“ ist seit Jahrzehnten nicht nur Ermittlungs- und Forschungsgegenstand. Der Gewaltbegriff ist vor allem auch Gegenstand einer teilweise sehr emotional geführten Debatte unterschiedlicher Akteursgruppen:
Einerseits wird „rituelle Gewalt“ als ernstzunehmendes Problem dargestellt. Dabei wird oft auf den Zusammenhang mit der Dissoziativen Identitätsstörung (DIS) und Erinnerungs-besonderheiten hingewiesen – vor diesem Hintergrund wird von einem defizitären Justiz- und Versorgungssystem im Umgang mit selbstdefinierten Betroffenen ausgegangen.
Andererseits wird diese Perspektive als übertriebene Besorgnis und Moralpanik gewertet und das Gewaltformat selbst als nicht real existent verstanden. Wiederholt wird betont, dass es keine Evidenz für das Vorhandensein dessen gibt, was unter dem Terminus „rituelle Gewalt“ verstanden wird.
So entwickelte sich nicht nur ein Dissens hinsichtlich der Anwendung von Behandlungskonzepten im klinischen und therapeutischen Bereich, sondern und auch im Umgang mit selbstdefinierten Betroffenen im Rahmen von Entschädigungsansprüchen und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren. Bei aller Konzentration auf das vermeintliche Gewaltformat scheinen die individuellen Bedarfe derer, die sich als betroffen von DIS und ritueller Gewalt verstehen, aus dem Fokus zu geraten.
Der Beitrag betrachtet ausgewählte Aspekte der Diskussion um und über „rituelle Gewalt“ aus einer kriminologisch-kriminalistischen Perspektive und spricht sich für einen pragmatischen und einzelfallbezogenen Umgang mit Angaben zu rituellem Gewalterleben aus.