Die Psychopathologie ist das Fundament der klinischen Psychiatrie. Die heutigen Grundlagen wurden ab dem 19. Jahrhundert gelegt. Die BGPN befasst sich seit ihrer Gründung 1867 intensiv mit psychopathologischen Fragen. Diese Tradition soll mit dem BGPN-Symposium fortgesetzt und der Blick in die Zukunft gerichtet werden, da aktuelle psychopathologische Konzepte z. T. Begrenzungen und unbeantwortete Fragen aufweisen.
Das Ausmaß psychischen Leids, mithin der inneren Qual, ist ein Kernmerkmal des psychischen Befundes mit u. a. engem Bezug zur Suizidgefahr, gehört aber nicht zu den üblichen psychopathologischen Kategorien. F. Reischies wird neue, auch neurobiologische Ergebnisse und Möglichkeiten der differenzierten Untersuchung und ihre Bedeutung für Diagnose, Prognose und Behandlung darstellen.
Die psychopathologische Zuordnung der charakteristischen posttraumatischen Intrusionen ist uneindeutig. T. Bschor wird ausführen, dass sie aufgrund des szenisch-bildhaften Charakters Aspekte optischer und akustischer Wahrnehmungsstörungen haben, dass sie aufgrund hoher emotionaler Beteiligung und Widerstand der Betroffenen hiergegen auch Merkmale von Angst und Zwang aufweisen. Besonders treffend können sie als Filterstörung des Gedächtnisses beschrieben werden (1).
Die Etablierung des AMDP-Systems war ein großer Gewinn für allgemeines Verständnis, Einheitlichkeit und Reliabilität des psychopathologischen Befundes. B. Ochs diskutiert, wo das System inzwischen an Grenzen stößt. Aus dem Nutzerfeedback des von ihm entwickelten und betriebenen Befundomat – einem in Deutschland umfassend genutzten Online-Systems zur psychopathologischen Dokumentation (2) – sowie aus einer Clusteranalyse psychopathologischer Variablen entwickelt er einen Vorschlag zur Ergänzung und Weiterentwicklung von Erfassung und Dokumentation des psychopathologischen Befunds.
10:15 Uhr
Psychisches Leid: negative Valenz als psychopathologische Basiskategorie
F. Reischies (Berlin, DE)
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F. Reischies (Berlin, DE)
Psychisches Leid: Negative Valenz als psychopathologische Basiskategorie. Leiden ist kein psychopathologisches Standard-Merkmal. (1) Die RDoC-Initiative des NIMH hat die Valenz (negativ-positiv) als eine der grundlegenden Dimensionen einer neurowissenschaftlich fundierten Diagnostik in der Psychiatrie definiert, was erhebliche Forschungsaktivitäten angeregt hat. Leiden muss nach dieser Forschungsrichtung als das Erleben extrem negativer Valenz aufgefasst werden. Wundt hatte Valenz als die bei allen Empfindungen (auch den Emotionen) mitaktivierte Erlebensdimension eingeführt: unangenehm/unwohl - angenehm/wohl. (2) Ein Modell der Verarbeitung negativer Signale (Schmerz, Hunger, Ersticken, Übelkeit etc.) zu einer negativen Valenz mit adaptiven evolutionären Vorteilen wurde vorgeschlagen – die Entwicklung der negativen Valenz ermöglichte danach die Anpassung der Aktionen früher Lebewesen (Reischies Leid-Erleben, 2021). Es werden dafür die Argumente für ein Lernen neuronaler Netze anhand der Rückkopplungen der Handlungskonsequenzen dargestellt - mit der Hypothese, dass die retikuläre Formation des Hirnstamms entscheidend beteiligt war. Die Neuroscience-Befunde zum Beleg für das Modell werden vorgestellt. Die Forschung über ein basales Bewusstsein und ein basales Selbst auf der oberen Hirnstammebene ermöglicht eine Erklärung eines Proto-Erlebens von Leid. (3) Wie steht es um das Leid-Erleben in der diagnostischen Psychopathologie? Die Empfindung „Leiden“ hat, wie auch das Merkmal „deprimiert“ keine eigene Gefühlsqualität – wie z.B. Angst, Freude oder Ekel. Die Beziehung des Erlebens von negativer Valenz zum Symptom deprimiert (beispielsweise mit unaushaltbarer Qual der Patienten) und zum Symptom innere Unruhe wird diskutiert. Die meisten Patienten in einer Remission der schweren Depression können berichten, bis wann der depressive Zustand ein „Leiden“ war. Zusammenfassend sprechen die Argumente für die Aufnahme der negativen Valenz und des Leid-Erlebens in die Diskussion
10:45 Uhr
Intrusionen, Flashbacks, Nachhallerinnerungen ‒ Symptome zwischen den Stühlen der Psychopathologie
T. Bschor (Berlin, DE)
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T. Bschor (Berlin, DE)
Hintergrund: Intrusionen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks) sind das diagnoseweisende Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Die meisten psychopathologischen Symptome lassen sich eindeutig einer Kategorie des psychopathologischen Befundes zuordnen. Die Einordnung von Intrusionen in den psychopathologischen Befund ist bislang aber ungeklärt.
Methode: Systematische Diskussion der potentiellen psychopathologischen Kategorien auf der Basis des aktuellen Forschungsstands und einer selektiven Literatursuche in Medline.
Ergebnisse: Intrusionen sind sich gegen den Widerstand des/der Betroffenen aufdrängende Erinnerungen an ein traumatisches Ereignis mit einer phänomenologisch gemischten Erscheinung. Sie enthalten Elemente einer qualitativen Bewusstseinsstörung, von Ängsten, Zwangsgedanken, Sinnestäuschungen (Halluzinationen potentiell auf allen fünf Sinnesgebieten) und Störungen der Gedächtnisfunktion.
Schlussfolgerungen: Im Vortrag wird dargelegt, dass die Kategorie Gedächtnis das Wesensmerkmal von Intrusionen noch am besten abbildet. Im Kern entstehen Intrusionen durch eine Störung der Filterfunktion des Gedächtnisses, das neben einer reinen Speicherfunktion auch die Aufgabe hat, Gedächtnisinhalte im richtigen Moment bereitzustellen und unpassende Erinnerungen aus dem Bewusstsein fernzuhalten. Eine neue psychopathologische Kategorie „pathologische Konditionierungen“ könnte dem komplexen Charakter von Intrusionen aber besser gerecht werden und auch Ängste und Zwänge umfassen.
11:15 Uhr
Psychopathologie 3.0: Konzept zur mehrdimensionalen Befunddokumentation als Ergebnis von Cluster-Analysen
B. Ochs (Berlin, DE)
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B. Ochs (Berlin, DE)
Die aktuelle Praxis der Dokumentation des psychopathologischen Befundes im deutschsprachigen Raum geht vorwiegend auf zwei wegweisende Lehrwerke zurück. Ende des 19. Jahrhunderts prägte E. Kräpelin einen maßgeblichen Teil der bis heute verwendeten psychopathologischen Begriffe („1. Welle“). Ab Mitte der 1960er Jahre bewirkte die AMDP-Arbeitsgemeinschaft eine vermehrte Operationalisierung und Verbesserung der Interrater-Reliabilität („2. Welle“).
Durch ein verändertes Verständnis für eine ganze Reihe psychischer Erkrankungen, wie Impulskontroll-, Persönlichkeits- und Körperschemastörungen sowie Autismus, ergeben sich veränderte Anforderungen an den psychopathologischen Befund. Eine differenzierte Beschreibung von Auffälligkeiten in der Kontaktaufnahme und suchtassoziierten Symptomen wie Craving und der Selbstbewertung fehlt häufig. Gerade die Beschreibung des Kontaktverhaltens erfordert ein besonders umfangreiches, feinsinniges Vokabular, um einen anschaulichen Befund zu erstellen.
Der Referent analysierte ein semantisches Netzwerk der einzelnen Items des psychopathologischen Befundes sowie Rückmeldungen aus der Benutzung der Internetseite Befundomat.de und konnte anhand dessen ein alternatives Modell zur Dokumentation des psychopathologischen Befundes erstellen. Der psychopathologische Befund 3.0 knüpft an die Dokumentationstradition von E. Kräpelin und AMDP an, stellt bei einzelnen Aspekten jedoch neue Strategien vor, die sich aus der veränderten psychopathologischen Nosologie und digitalen Arbeitsweise der 2020er Jahre ergeben.