Versorgungsforschung im Bereich der Diagnostik ist noch nicht sehr häufig, wird aber zunehmend wichtig. In dieser Session werden Studien vorgestellt, die sich mit verschiedenen diagnostischen Themen auseinandersetzen. Es werden dabei sowohl medizinische als auch gesundheitsökonomische Fragestellungen für verschiedene Patientengruppen dargestellt.
11:45 Uhr
V032:
Versorgungsforschung in der Krebsfrüherkennung: Inanspruchnahme von Screeningleistungen beim Cervix-Carcinom auf Basis von GKV-Routinedaten
D. Horenkamp-Sonntag (Hamburg, DE)
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Autor:innen:
D. Horenkamp-Sonntag (Hamburg, DE)
U. Schneider (Hamburg, DE)
S. Engel (Hamburg, DE)
S. Wirtz (Hamburg, DE)
R. Linder (Hamburg, DE)
Hintergrund / Fragestellung
Bislang wurde beim Cervix-Ca-Screening eine Abstrichuntersuchung (sog. Pap-Test) für Frauen ab dem 20. Lebensjahr einmal jährlich durch die GKV gemäß GBA-Früherkennungsrichtline übernommen. Dieser dient zur Erkennung von Vorstufen eines Gebärmutterhalskrebs, wobei als häufigste Ursache eine Infektion mit bestimmten Typen des humanen Papillomvirus (HPV) gilt. Deshalb wird überlegt, ob und inwiefern der jährliche Pap-Test ggf. durch einen HPV-Test ersetzt werden kann, der in einem größeren zeitlichen Abstand zur Anwendung kommt und evtl. sensitiver ist. Werden durch ein Screening sehr frühe Zeichen einer Zellentartung angezeigt, die ggf. wieder von selbst ausheilen, besteht allerdings die Gefahr einer Überversorgung, indem medizinisch nicht indizierte Maßnahmen vermehrt zur Anwendung kommen.
Momentan wird beim Gemeinsamen Bundesauschuss die Gebärmutterhals-Krebsfrüherkennung weiterentwickelt und teilweise neuorganisiert. Wichtige Elemente sind dabei u.a. die Verbesserung der Qualitätssicherung, die Durchführung eines organisierten Einladungsverfahrens, eine Anpassung des Screeningintervalls und Regelungen zum Follow-up auffälliger Befunde. In diesem Zusammenhang hat der GBA am 16.09.2016 Eckpunkte beschlossen, die vorsehen dass Frauen ab dem Alter von 35 Jahren statt des jährlichen Pap-Tests alle drei Jahre eine Kombinationsuntersuchung – bestehend aus einem Test auf genitale Infektionen mit HPV und einer zytologischen Abstrich-Untersuchung – angeboten werden soll. Frauen im Alter zwischen 20 und 35 Jahren sollen wie bisher Anspruch auf eine jährliche zytologische Untersuchung haben.
Methodik
Auf der Basis von sektorenübergreifenden TK-Routinedaten (n = 10 Millionen Versicherte) wurde untersucht, ob und inwiefern die bislang geltenden GBA-Vorgaben zur Krebsfrüherkennung beim Cervix-Ca in der Versorgungswirklichkeit regional umgesetzt wurden. Daran anschließend wurde analysiert, inwiefern Korrelationen zu Versorgungsstrukturen und therapeutischen Konsequenzen existieren.
Ergebnisse
Im Zeitraum 2011-2014 ist bei insgesamt 2.961.301 Versicherten mindestens einmal eine Krebsvorsorge (EBM-GOP 01733) erfolgt. Bei 103.049 Versicherten wurde HPV (EBM-GOP 32820) nachgewiesen. Eine Kürettage (OPS 1471.2) erfolgte bei 48.002 Versicherten, eine Abrasio (OPS 1472.0) bei 14.163 und eine Konisation (OPS 5671.0/5671.1) bei 19.461. Die mittlere jährliche Screeninginanspruchnahme beträgt 55,4%, wobei diese in Bremen, Niedersachen und Hamburg mehr als doppelt so hoch ist wie in Brandenburg, Thüringen und Sachsen-Anhalt. In Sachsen kommen auf einen gynäkologischen Vertragsarzt im Mittel 190 TK-Versicherte Frauen > 20 Jahre, in Hamburg durchschnittlich 600. Pro 100.000 Versicherten mit Krebsvorsorge erfolgen im Mittel 123,5 Konisationen, wobei diese in Sachsen und Mecklenburg (n jeweils < 50) deutlich seltener sind als in Hamburg, Berlin, Brandenburg und Sachsen-Anhalt (n jeweils >200).
Diskussion
Screeningmaßnahmen beim Cervix-Ca lassen sich mit GKV-Routinedaten transparent darstellen. Im Gegensatz zu anderen medizinischen Indikationen (z.B. Colon-Ca) können durch das jährliche Wiederholungsintervall Inanspruchnahmequoten bei anspruchsberechtigten Versicherten exakt ausgewiesen werden. Hinsichtlich der Leistungsinanspruchnahme gibt es eine extreme regionale Streuung, die mit der gynäkologischen Facharztdichte vor Ort und den medizinischen Konsequenzen bei positiven Screeningbefunden korreliert. In weiteren Untersuchungen ist noch zu analysieren, inwiefern die regionale Varianz bei der Krebsfrüherkennung durch Alterspräferenzen auf Patientenseite und Präferenzen für bestimmte Screeningintervalle auf Ärzteseite erklärt werden kann.
Praktische Implikationen
GKV-Routinedatenanalysen sind geeignet, im Rahmen einer Politikfolgenforschung zeitnah Hinweise auf Veränderungen bei der Teilnahme an Krebsfrüherkennungsprogrammen zu geben. Die regionale Variabilität der Inanspruchnahme von Leistungen zur Krebsfrüherkennung sollte bei der Einführung von strukturierten Einladungsprogrammen berücksichtigt werden.
12:03 Uhr
V033:
Erfahrungen aus der Machbarkeitsstudie zu einer cluster-randomisierten kontrollierten Studie zur Früherkennung von Tumoren der Mundhöhle durch niedergelassene Zahnärzte in Schleswig-Holstein
K. Hertrampf (Kiel, DE)
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Autor:innen:
M. Jürgensen (Lübeck, DE)
A. Waldmann (Lübeck, DE)
S. Wahl (Hannover, DE)
E. Baumann (Hannover, DE)
J. Wiltfang (Lübeck, DE)
H. Wenz (Kiel, DE)
K. Hertrampf (Kiel, DE)
Hintergrund und Fragestellung
Früherkennungsuntersuchungen sind Bestandteil der Regelversorgung für Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherungen, obwohl z. T. keine oder widersprüchliche Evidenz für deren Wirksamkeit vorliegt. Zunehmend wird ein Wirksamkeitsnachweis der jeweiligen Untersuchungsmethodik gefordert. Bis dato steht dieser Nachweis für die systematische standardisierte Mundschleimhautuntersuchung zur Stellung einer ersten Verdachtsdiagnose des Tumors der Mundhöhle durch niedergelassene Zahnärzte aus. Dieser Nachweis soll in einer geplanten cluster-randomiserten kontrollierten Studie (c-RCT) erbracht werden. In einer Pilotstudie wurde das Konzept auf Machbarkeit evaluiert.
Methode
Das Pilotprojekt bestand aus einer Konsolidierungsphase zur Etablierung der Infrastruktur, Finalisierung der Studienunterlagen, Rekrutierung von niedergelassenen Zahnärzten. In der Studienphase kamen zur Dokumentation der Mundschleimhautuntersuchung im Rahmen der zahnärztliche Kontrolluntersuchung zwei unterschiedliche Erhebungsbögen zum Einsatz. Es folgte eine max. sechsmonatige Dokumentationsphase mit max. 200 Dokumentationsbögen pro teilnehmendem Zahnarzt. Parallel wurden zum Beginn und Ende der Dokumentation in einem Mix-Method Design Daten zur Entwicklung einer Interventionsstrategie für den geplanten c-RCT erhoben. Das Projekt schloss mit einem Workshop.
Ergebnisse
Insgesamt nahmen 24 Zahnärzten und ein Mund-Kiefer-Gesichtschirurg teil (18 Praxen; Frauenanteil: 24 %, mittleres Alter und Berufserfahrung: 50 bzw. 22 Jahre). Es wurden insgesamt 4.504 teilnehmende Patienten (Frauen: 56 %) und 455 Nichtteilnehmende (Frauen: 52 %; bei 57 % keine Angabe von Gründen) dokumentiert. Die Anzahl der dokumentierten Patienten pro Zahnarzt betrug 71 bis 244, bei unterschiedlicher Länge des Dokumentationszeitraums. Anlass der Untersuchung war zu 95 % die zahnärztliche Kontrolluntersuchung. Dokumentationslücken und -probleme zeigten sich in geringem Umfang bei den Angaben zum Tabak- und Alkoholkonsum und in größerem Ausmaß bei den administrativen Daten. Die häufigsten Befunde der Untersuchungen waren in absteigender Reihenfolge Leukoplakie, Erythroplakie, Lichen, Tumor. Die Dokumentationsbögen wurden insgesamt unaufwändig und unproblematisch für den Praxisalltag empfunden. Zusätzlich wurde eine Einbindung in die Praxissoftware angeregt.
Schlussfolgerung
Die Dokumentation kann mit den erstellten Unterlagen als „machbar“ angesehen werden. Dennoch zeigten die Interviews mit den Zahnärzten eine Reihe von Klärungsbedarfen bzw. Optimierungspotenzialen auf. Das größte Potenzial wurde in der Vereinfachung sowie Standardisierung des Studienablaufs in der Praxis und beim Ausfüllen der Dokumentationsbögen unter Einbindung des gesamten Praxisteams gesehen.
Praktische Implikationen
Für einen optimalen Ablauf im geplanten c-RCT sollte anfangs eine „engmaschige Kontrolle“ der Dokumentation durch die Studienzentrale erfolgen. Praxen-Besuche könnten ggf. zu einem optimierten Ablauf beitragen.
12:21 Uhr
V034:
Re-Konfiguration von Gesundheit und Krankheit. Die budgetären Auswirkungen der genetischen Testung auf BRCA1/2-Mutationen für die Gesetzliche Krankenversicherung
S. Neusser (Essen, DE)
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Autor:innen:
S. Neusser (Essen, DE)
J. Biermann (Essen, DE)
J. Wasem (Essen, DE)
R. Schmutzler (Köln, DE)
K. Rhiem (Köln, DE)
A. Neumann (Essen, DE)
Hintergrund. Derzeit werden Potenziale sowie mögliche Konsequenzen der genetischen Risikoklassifikation gesunder Menschen diskutiert. Unklar ist, inwieweit eine zunehmende Nachfrage nach genetischer Testung zu Mehrbelastungen und/oder Verschiebungen im Budget der GKV führen können. Ziel dieser Arbeit ist die Ermittlung der budgetären Auswirkungen der Risikoklassifikation am Beispiel des hereditären Mammakarzinoms. Hierbei wird die prädiktive genetische Testung gesunder weibliche Angehöriger erkrankter Mutationsträgerinnen auf BRCA1/2-Mutationen betrachtet. Für diese Gruppe existiert die Möglichkeit einer prädiktiven Testung über das Deutschen Konsortiums Familiärer Brust- und Eierstockkrebs sowie einer intensivierten Früherkennung und/oder prophylaktischer Operationen (Mastektomie/Ovarektomie) als Interventionsmaßnahmen für Mutationsträgerinnen.
Methodik: Basierend auf der Methodik einer Budget Impact Analyse wurde ein Markovmodell als Kohortensimulation entwickelt, dass die folgenden Szenarien abbildet: A gleichbleibende Nachfrage des gentischen Screenings sowie der Interventionsmöglichkeiten, B Nachfrage aller gesunden weiblichen Angehörigen erkrankter Mutationsträgerinnen. Inputparameter zur Nutzung der prädiktiven Testung und der Interventionsmaßnahmen basieren auf Daten des Deutschen Konsortiums Familiärer Brust- und Eierstockkrebs, fehlende Daten wurden über systematische Literaturrechen ermittelt. Die Anzahl gesunder Frauen, die Angehörige bereits erkrankter Mutationsträgerinnen sind und somit eine prädiktive genetische Testung nachfragen könnten, wird anhand einer Prävalenzabschätzung auf Basis von Daten des Konsortiums sowie Gesellschaft der epidemiologischen Krebsregister in Deutschland ermittelt. Das Modell startet 2015, die dargestellte Laufzeit beträgt 5 Jahre. Die Preise werden für das Studienbasisjahr 2015 aus GKV-Perspektive erhoben. Dargestellt werden die Ergebnisse ohne Halbzyklus-Korrektur.
Ergebnisse: Das Modell startet im Jahr 2015 mit Mutationsträgerinnen, die bereits im Rahmen des Programms betreut wurden. Jährlich könnten nach der Prävalenzabschätzung 4.515 gesunde Angehörige im Alter zwischen 25 und 69 Jahren in die genetische Beratung kommen, die die Voraussetzungen zur prädiktiven Testung erfüllen. Erhalten alle die Möglichkeit zur prädiktiven Testung entstehen im ersten Jahr Kosten von 3.840.317€ bei einer Diskontierungsrate von 3% summieren sich die Kosten nach dem fünften Jahr auf 32.458.291€. Werden die Kosten der Genanalyse bei der erkrankten Mutationsträgerin berücksichtigt liegen die Kosten mit 14.198.848€ bereits im ersten Jahr deutlich höher. Damit entstehen durch die Ausweitung der Inanspruchnahme der prädiktiven genetischen Testung im Vergleich zur einem Szenario gleichbleibender Inanspruchnahme über den Zeitraum von fünf Jahren Mehrkosten in Höhe von 64.907.062€. Dabei stellt die Genanalyse der bereits erkrankten Mutationsträgerinnen den Hauptkostentreiber dar. Demgegenüber deuten sich bei den Ausgaben für die Behandlung und Nachsorge von Mamma- und Ovarialkarzinomen Einsparungen an.
Diskussion: In Anbetracht der bisherigen Ungewissheit hinsichtlich der budgetären Auswirkungen genetischer Risikoklassifikationen trägt die detaillierte Simulation dazu bei, diese Wissenslücke zu schließen. Insgesamt zeigt sich, dass insbesondere die Durchführung der Genanalyse bei den erkrankten Angehörigen einen wesentlichen Kostentreiber darstellt. Mit zunehmender Laufzeit des Modells zeichnen sich erste Hinweise auf das Einsparpotential durch die Verringerung von Behandlungskosten für entstandene Karzinome an.
12:39 Uhr
V035:
Der Adapted Diabetes Complications Severity Index (aDCSI) mit Routinedaten als krankheitsspezifischer Prädiktor für eine Hospitalisierungsvorhersage
K. Karimova (Frankfurt am Main, DE)
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Autor:innen:
K. Karimova (Frankfurt am Main, DE)
I. Schubert (Köln, DE)
I. Köster (Köln, DE)
A. Glushan (Frankfurt, DE)
M. Beyer (Frankfurt, DE)
Hintergrund: Der Diabetes Complications Severity Index (DCSI) mit Labordaten erlaubt eine Einschätzung des Schweregrads der Diabeteserkrankung (DM) auf der Basis der Komplikationsentwicklung und kann zur krankheitsspezifischen Adjustie-rung und zur Prädiktion von Hospitalisierungsrisiken oder Kosten eingesetzt werden (1). Um den Schweregrad mittels Routinedaten abbilden zu können, in denen klinische Werte meist fehlen, wurde ein adaptierter Score entwickelt (Adapted Diabetes Complications Severity Index (aDCSI) (2)). Bisher basieren diese Indices auf Diagnoseschlüsseln nach ICD-9 und wurden außerhalb Europas validiert (3, 4).
Ziele: 1) Übertragung des aDCSI von ICD-9 nach ICD-10; 2) Validierung des ICD10-basierten aDCSI in Vorhersagemodellen zur Hospitalisierung im Vergleich mit schon publizierten aDCSI (basiert auf ICD-9) und DCSI (basiert auf klinischen Daten)
Methoden: Datenbasis ist die Versichertenstichprobe AOK BaWü für die Jahre 2011-2014. Eingeschlossen werden Patienten mit einer epidemiologisch gesicherten Diagnose Diabetes mellitus (DM) (ICD-10: E10-E14) und einer DM-Medikationsverordnung in 2010. Der aDCSI-Score (Summe von 7 DM-Folgeerkrankungen mit Krank¬heitsschweregrad (0-13)) und Zahl der aDCSI-Komplikationen (Disease count von 7 DM-Folgeerkrankungen des DM ohne Krankheitsschweregrad (0-7)) werden mittels Routinedaten berechnet. Als Zielvariablen für die Vorhersagemodelle wird die Hospitalisierung (gesamt) gewählt. Der Einfluss des Schweregrades auf die Hospitalisierung wird mittels eines linearen Regressionsmodells berechnet. Adjustierungsvariablen sind Alter, Geschlecht, Charlson Index (ohne Diabetes) und aDCSI. Für der Validierung des Scores werden Risk Ratios (RR) von aDCSI (ICD-9) (2) und DCSI (mit klinischen Daten) (1) für Hospitalisierung aus internationalen Studien mit RRs aus unseren Prädiktormodellen verglichen.
Ergebnisse: 157.115 Patienten erfüllen die Einschlusskriterien. Der Durchschnittsscore aDCSI bei Baseline (2010) in der Kohorte lag bei 2,06 Punkten. Die durchschnittliche Anzahl der Komplikationen war 1,51. Es lässt sich für unseren neu übersetzten und an ICD-10 angepassten aDSCI eine deutliche Zunahme des Hospitalisierungsrisikos bei höheren Scorewerten zeigen. Jedoch ist die Risikoerhöhung geringer als nach früheren Studien zu erwarten.
Diskussion und praktische Implikation: In internationalen Publikationen wird der aDCSI als guter Indikator für den Krankheitsschweregrad von DM bezeichnet, vor allem in den Hospitalisierung-Vorhersagemodellen (2, 3). Wir haben einen plausiblen Anstieg des Hospitalisierungsrisikos mit steigendem Score beobachtet. Die niedrigere Risikoerhöhung in Vergleich mit internationalen Studien kann an unterschiedlichen absoluten Hospitalisierungsrisiken liegen. In der Versorgungsforschung ist es der bislang einzige belastbare krankheitsspezifische (Ko-) Morbiditätsindikator. Der aDSCI kann zur Adjustierung, aber auch in Vorhersagemodellen für Kostenschätzungen und Hospitalisierungsrisiko benutzt werden.
Korrespondenzadresse: Kateryna Karimova, Institut für Allgemeinmedizin, Goethe-Universität Frankfurt Theodor-Stern Kai 7, 60590 Frankfurt am Main Tel: 069/6301-4155, E-Mail: karimova@allgemeinmedizin.uni-frankfurt.de
Literature Cited
1. Young BA, Lin E, Korff M von, Simon G, Ciechanowski P, Ludman EJ et al. Diabetes complications severity index and risk of mortality, hospitalization, and healthcare utilization. Am J Manag Care 2008; 14(1):15–23.
2. Chang H-Y, Weiner JP, Richards TM, Bleich SN, Segal JB. Validating the adapted Diabetes Complications Severity Index in claims data. Am J Manag Care 2012; 18(11):721–6.
3. Chen H-L, Hsu WW-Y, Hsiao F-Y. Changes in prevalence of diabetic complications and associated healthcare costs during a 10-year follow-up period among a nationwide diabetic cohort. Journal of diabetes and its complications 2015; 29(4):523–8.
4. Chen H-L, Hsiao F-Y. Risk of hospitalization and healthcare cost associated with Diabetes Complication Severity Index in Taiwan's National Health Insurance Research Database. Journal of diabetes and its complications 2014; 28(5):612–6.
12:57 Uhr
V036:
Screening in der Schwangerschaft und frühen Kindheit: Evidenzgestützte Weiterentwicklung des österreichischen “Mutter-Kinder-Passes“ auf Basis internationaler Leitlinien und nationaler ExpertInnenbewertung
R. Winkler (Wien, AT)
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Autor:innen:
R. Winkler (Wien, AT)
B. Piso (Wien, AT)
I. Reinsperger (Wien, AT)
K. Rosian (Wien, AT)
Hintergrund
Seit 1974 steht in Österreich für alle Schwangeren und Kinder (bis zum 6. Lebensjahr) der „Mutter-Kind-Pass“ als nationales Screening-Instrument bereit. 2010 beschloss das Bundesministerium für Gesundheit und Frauen einen mehrjährigen Überarbeitungsprozess zu initiieren und wissenschaftlich begleiten zu lassen. Nach insgesamt 9 Hintergrundberichten (u.a. zu Screening-Prozessen im internationalen Vergleich, Maßnahmen zur Reduktion von Frühgeburten) begann 2014 eine ministerielle Facharbeitsgruppe (mit ExpertInnen aus den Bereichen Medizin, Hebammen, Public Health, Frühe Hilfen etc.) eine vorangegangene Leitliniensynopse zu (evidenzbasierten) Screening-Empfehlungen für den nationalen Kontext zu bewerten. Im Februar 2017 wurde dieser Bewertungsprozess für den Bereich Schwangerschaft und Wochenbett abgeschlossen. Seit März 2017 tagt die Facharbeitsgruppe monatlich zu Screening-Empfehlungen für Kinder (Abschluss voraussichtlich Anfang 2018).
Fragestellung
Welche Gesundheitsbedrohungen werden in ausgewählten evidenzbasierten Leitlinien für den Bereich Schwangerschaft, Wochenbett und frühe Kindheit defininiert? Welche Entscheidungen wurden bisher von der ministeriellen Facharbeitsgruppe bzw. welche Pro-Screening-, Kontra-Screening-Empfehlungen wurden ausgesprochen?
Methode
Die evidenzbasierten Leitlinienempfehlungen wurden auf Basis einer systematischen Datenbanksuche in GIN („Guidelines International Network“) und NGC („National Guideline Clearinghouse“) sowie einer Handsuche in mehreren internationalen Datenbanken (wie z.B. AWMF) identifiziert. Die Bewertung der Leitlinienempfehlungen durch die Facharbeitsgruppe beruht auf internationalen Praxisbeispielen zur Bewertung bzw. Kontextualisierung von Evidenz.
Ergebnisse
Insgesamt konnten für die Schwangerschaft 101 Screening-Leitlinien (von 12 Leitlinien-Institutionen) zu 48 Gesundheitsbedrohungen erhoben werden und für das Wochenbett wurden 6 Screening-Leitlinien (von 5 Institutionen) zu 6 Gesundheitsbedrohungen eingeschlossen. Ein beträchtlicher Teil der Leitlinien (32 von 101) stammt vom UK National Screening Committee (UK NSC) und sind als Policy Decisions zu verstehen, die sich primär an politische EntsscheidungsträgerInnen im Gesundheitswesen richten. Bei 69 von 101 Leitlinien handelt es sich um klinische Guidelines (z.B. 20 Leitlinien von der kanadischen Society of Obestetricians and Gynaecologists etc.). Für die frühe Kindheit konnten 75 Screening-Leitlinien (von 10 Leitlinien-Institutionen) zu 45 Gesundheitsbedrohungen identifiziert werden (42 Policy Decisions vom UK NSC). Die Facharbeitsgruppe hielt 21 inhaltliche Sitzungen zum Thema Schwangerschaft und 2 Sitzungen zum Thema Wochenbett (jede Sitzung zwischen 4 und 6 Stunden) ab. Für die Schwangerschaft wurden 31 Pro-Screening-Empfehlungen und 27 Kontra-Screening-Empfehlungen formuliert. Für das Wochenbett wurden je 3 Pro- und 3 Kontra-Empfehlungen ausgesprochen. Zu den einzelnen Gesundheitsbedrohungen in der Schwangerschaft konnten Empfehlungen von 1 bis maximal 8 verschiedenen Institutionen extrahiert werden. Bei 7 von 48 Gesundheitsbedrohungen für Schwangere wurden lediglichen evidenzbasierte Empfehlungen von 1 Institution identifiziert (z.b. bei Tuberkulose, Vitamin-D Mangel etc.). Die Empfehlungen für Screenings in der frühen Kindheit werden in aktuell laufenden Facharbeitsgruppen formuliert und Anfang 2018 zum Abschluss kommen.
Diskussion
Die Leitlinienübersicht zu Screenings für Schwangere, Wöcherinnen und Kinder stellt vor dem Hintergrund strenger methodischer Einschlusskriterien ein fundiertes „Assessment“ dar. Hiermit wird eine Übersicht zur Verfügung gestellt, die Screening-Empfehlungen von internationalen Leitlinienorganisationen zusammenfasst. Mit der Etablierung einer nationalen Facharbeitsgruppe erfolgt eine Bewertung („Appraisal“) unter Berücksichtigung nationaler Besonderheiten und Konditionen, die letztlich die Gesundheitspolitik („Policy Decision“) bei der Entscheidungsfindung über ein neues Screening-Programm unterstützen soll.
Praktische Implikationen
Die Ergebnisse dieses Bewertungsprozesses finden direkte (gesundheitspolitische) Anwendung als dass sie die Grundlage für ein zukünftiges (überarbeitetes) Screening-Programm für Schwangere und Kinder in Österreich liefern. Insofern ermöglicht dieser Prozess die Verschränkung von evidenzbasierten Screening-Empfehlungen mit ExpertInnen-Einschätzungen – wobei durch die breite Streuung an involvierten Gesundheitsberufen, ein breites Spekrum an aktuellen sozialmedizinischen Morbiditäten berücksichtigt wird. Vor dem Hintergrund unterschiedlicher prä-, peri- und postnataler Screening-Programme in Europa können die Ergebnisse des österreichischen Entscheidungsfindungsprozesses wertvolle Erfahrungen für andere Länder darstellen.