Fragestellung: In Deutschland leben Schätzungen zufolge mehr als 50.000 Kinder mit einer dysarthrischen Sprechstörung. Bislang widmen sich jedoch nur wenige Studien dem klinischen Bild kindlicher Dysarthrien. Insbesondere ist über Entwicklungsverläufe betroffener Kinder kaum etwas bekannt.
Wir stellen eine Längsschnittstudie mit neurologisch erkrankten Kindern vor. Dabei werden manifeste Dysarthrien erstmals im Entwicklungsverlauf dargestellt. Es wird überprüft, inwieweit Kinder mit Dysarthrien von Entwicklungsprozessen profitieren und sich ihrer Altersnorm annähern. Bei unklarer Dysarthriediagnose wird hingegen untersucht, ob sich isolierte auditiv wahrnehmbare Auffälligkeiten des Sprechens (z.B. eine rau-behauchte Phonation) im Verlauf als physiologische Entwicklungsmerkmale oder als Dysarthriesymptome klassifizieren lassen.
Material & Methode: Es wurden 14 Kinder (unterschiedliche Ätiologien, mit und ohne Dysarthriediagnose; 10 m; 5;1 – 8;4 Jahre;Monate) jeweils zwei Mal im Abstand von 9 Monaten untersucht. Mittels eines eigens entwickelten Materials zur Diagnostik kindlicher Dysarthrien wurden Sprechproben erhoben. Diese wurden in Anlehnung an die Bogenhausener Dysarthrieskalen auditiv beurteilt.
Die Längsschnittstudie ist Teil eines größeren Projekts, das erstmals dysarthriebezogen altersspezifische Normdaten von 140 Kindern (70 m, 3-9 Jahre) zur Verfügung stellt (vgl. Einreichung Schölderle et al.). Der Vergleich der neurologisch erkrankten Kinder mit dieser Gruppe ermöglicht nun, Entwicklungsverläufe vor dem Hintergrund der spezifischen Altersnorm zu betrachten und Entwicklungsmerkmale von Dysarthriesymptomen zu differenzieren.
Ergebnisse: Kinder mit manifesten, schwerer ausgeprägten Störungen zeigten unterschiedliche Entwicklungsverläufe. Einige konnten die Entwicklungsdynamik ausnutzen und verbesserten sich erkennbar, andere Kinder konnten hingegen nur gering ausgeprägte Fortschritte erzielen und entfernten sich dadurch weiter vom Normverlauf.
Auch Kinder mit isolierten Auffälligkeiten entwickelten sich unterschiedlich. In einigen Fällen war eine Einwicklung hin zur Norm zu beobachten, sodass eine Dysarthriediagnose nicht angezeigt war. Bei anderen Kindern konnten keine Verbesserungen festgestellt werden, sodass sich der Abstand zur Norm vergrößerte und die Auffälligkeiten als Dysarthriesymptome klassifiziert wurden.
Diskussion: Die Gruppe der Kinder mit Dysarthrien stellt sich sehr heterogen dar. Es wird diskutiert, ob Faktoren wie bspw. der GMFCS oder eine assoziierte Sprachentwicklungsstörung Einfluss auf die Entwicklungsverläufe nehmen.
Das Wissen über unterschiedliche Entwicklungsverläufe und sprechmotorische Merkmale, die sich erst mit zunehmendem Alter manifestieren, kann die Diagnosestellung erheblich verbessern.
Schlussfolgerung: Die Studie stellt erstmals Verlaufsdaten kindlicher Dysarthrien vor und kann zu einem besseren Verständnis des Störungsbildes sowie zu einer standardisierten Diagnostik betroffener Kinder beitragen.
Fragestellung
In dieser Studie sollen die neuropathologischen Befunde von Rückenmark und Gehirn bei Spina bifida systematisch untersucht werden.
Material und Methoden
Es erfolgte eine neuropathologische Re-Evaluation aller Fälle mit den ICD 10 Diagnosen Q05 und Q76, die im Institut für Neuropathologie der Charité Berlin im Zeitraum von 1974 bis 2000 untersucht wurden. Insgesamt konnten 92 Fälle eingeschlossen werden. Es erfolgte eine ausführliche Aktenauswertung und fotographische Dokumentation der mikroskopischen Befunde sowie die Anfertigung zusätzlicher Schnitte und neuer Färbungen zur Klärung unklarer Diagnosen.
Ergebnisse
63 Patienten verstarben pränatal, 46 davon in Folge einer Abruptio, 17 aufgrund eines Spontanaborts.
Die 29 postnatalen Patienten verstarben zum Großteil innerhalb des 1. Lebensmonats.
Insgesamt sowie auch innerhalb der Altersgruppen war das Geschlechterverhältnis ausgeglichen (w:m 43%:41%; 14% unbekannt).
Hinsichtlich der neuropathologischen Diagnose konnte am häufigsten eine Myeloschisis festgestellt werden (n=34; 37%). Dabei zeigte sich das Rückenmark im histologischen Bild als offene Medullarplatte mit einer nach außen offenliegenden Ependymleiste ähnlich einem offenen Buch.
25 Patienten (27%) wiesen eine Myelomeningocele auf, besonders auffällig war dabei, dass die Dura im Bereich des Defekts verdünnt vorlag oder fehlte. Die Diagnose Spina bifida occulta konnte bei 8 Patienten (9%) gestellt werden. 4 Patienten wiesen zusätzlich zur Rückenmarksfehlbildung eine Encephalocele auf, 3 zusätzlich einen Anencephalus. Bezüglich der Läsionshöhe konnte beim Großteil eine Beteiligung der lumbalen und/oder sakralen Wirbelsäule festgestellt werden (n=74; 80%).
Bei 55 Patienten (60%) kam es zu einem assoziierten Hydrocephalus. 25 Patienten (27%) hatten zusätzlich zur Rückenmarksfehlbildung eine Chiari-II-Malformation, davon 24 mit Hydrocephalus. Diese assoziierten Anomalien traten bereits in der 19. bzw. der Hydrocephalus schon in der 17. Schwangerschaftswoche auf. Mikroskopisch nachweisbare Gehirnanomalien umfassten Heterotopien, Migrationsstörungen, Balkenhypoplasien, Stenogyrie, Polymikrogyrie und Aquäduct-Fehlbildungen.
Diskussion
Diese Studie liefert neue detaillierte Erkenntnisse zur Pathomorphologie der Spina bifida. Unsere Ergebnisse zeigen, dass neben der Myelomeningocele, die in der Literatur am häufigsten mit Gehirnfehlbildungen assoziiert ist, auch die Myeloschisis eine starke Korrelation zu Hydrocephalus und Chiari-II-Malformation aufweist.
Interessant ist, dass bereits in sehr frühen Schwangerschaftswochen Hydrocephalus und Chiari-II-Malformationen bei Feten mit Neuralrohrdefekten nachgewiesen werden können, was eher für eine parallele Entwicklung der Fehlbildungen als eine zeitliche Abfolge spricht.
Schlussfolgerung
Der intrauterine Schluss des Neuralrohrs kann die Ausbildung eines Hydrocephalus und einer Chiari-II-Malformation nicht verhindern.
Fragestellung Der Erhalt des Knochens als Stütz- und Bewegungsapparates ist besonders im fortgeschrittenen Alter essentiell. Der Grundstein für eine gute Knochengesundheit wird jedoch bereits in der Kindheit gelegt und ist von vielen Lebensstilfaktoren, wie z. B. dem Ernährungs- und Bewegungsverhalten, abhängig. Dabei fungiert der Knochen jedoch nicht nur als Stützapparat, sondern nimmt auch Einfluss auf extra-skeletale Organe, zum Teil vermittelt über Osteocalcin. Neuere Studien zeigen, dass Osteocalcin auch die kognitive Entwicklung und Leistungsfähigkeit beeinflussen kann. Ob ein knochengesundes Ernährungsmuster und vermehrte Bewegung bei Schulkindern einen positiven Effekt auf die kognitiven Fähigkeiten haben könnten, wurde als sekundäre Fragestellung innerhalb der CogniDROP Studie betrachtet.
Methode In die Analyse wurden 74 Kinder der 5. und 6. Klasse (Alter 11,3 ± 0,7 Jahre) einer Gelsenkirchener Gesamtschule eingeschlossen. Hiervon besuchte die Hälfte sogenannte Sportklassen (SK), mit fünf bzw. sechs statt drei Stunden Schulsport pro Woche (Nicht-Sportklassen: NSK). Die Eltern der Probanden füllten einen Verzehrshäufigkeitenfragebogen aus, welcher anschließend zu einem Score für knochengesundes Ernährungsverhalten, mit maximal 73 möglichen Punkten, zusammengefasst wurde. Im Score wurden Lebensmittel bevorzugt, welche mit einer hohen Knochenmasse korrelieren. Die Kognitionstestung erfolgte mithilfe computergestützter Aufgaben im Klassenverband. Insgesamt wurden 4 Parameter untersucht: Arbeitsgedächtnis (2 back Task), kognitive Flexibilität (Switch Task), visuell-räumliches Gedächtnis (Corsi Block Tapping Task) und inhibitorische Kontrolle (Flanker Task).
Ergebnisse 6. Klässler in SK benötigten signifikant weniger Zeit in der Zahlensequenz des Switch Tasks als 6. Klässler in NSK (SK: 45 s; NSK 50 s; p = 0,04). Die erreichte Punktzahl im Ernährungsscore lag zwischen 40 und 59 Punkten und unterschied sich nur bei Jungen zwischen SK und NSK (SK: 51 Punkte; NSK: 48 Punkte; p = 0,04). Die Rate der falschen Reaktionen im 2 back Task verminderte sich bei allen Probanden mit steigendem Score (p = 0,02), ebenso wie die Rate der Reaktionen in no-go Versuchen des Flankers bei NSK (p = 0,03). Einzelne Bestandteile des Ernährungsverhaltens zeigten innerhalb der verschiedenen Gruppen (Geschlecht, Alter und Sportlichkeit) unterschiedlich starke Korrelationen.
Diskussion Besonders das Arbeitsgedächtnis scheint von der vermehrten Bewegung und einem knochengesunden Ernährungsmuster zu profitieren, wobei die inhibitorische Kontrolle in Gruppen mit weniger Bewegung durch eine verbesserte Ernährung profitieren könnte.
Schlussfolgerung Wir konnten beobachten, dass bestimmte kognitive Bereiche von Bewegungs- und knochengesunden Ernährungsmustern beeinflusst werden. Ob die beobachteten Unterschiede tatsächlich auf eine bessere Knochengesundheit zurückzuführen sind, sollte in weiterführende Studien untersucht werden.
Gefördert durch Uniscientia Stiftung, Vaduz.
Fragestellung: Wasser stellt einen der wichtigsten Nährstoffe für die physische und mentale Gesundheit dar. Doch gerade bei Kindern ist die Flüssigkeitsversorgung oftmals unzureichend. Eigene Vorstudien zeigen, dass ca. 17 % der 10 bis 12-jährigen Kinder vor Unterrichtsbeginn keinerlei Getränke zu sich nehmen. Dies kann sich negativ auf die Konzentrationsfähigkeit im Schulalltag auswirken. Das Ziel dieser Interventionsstudie war die Beantwortung der Frage, wie sich eine erhöhte Wasseraufnahme kurzfristig auf die kognitive Leistungsfähigkeit von Schulkindern unter Alltagsbedingungen auswirkt.
Methode: Die Studie wurde mit 249 Kindern der 5. und 6. Klasse (Alter 11,4 ± 0,7 Jahre) einer Gesamtschule in Gelsenkirchen durchgeführt. Vor Unterrichtsbeginn (8:00 Uhr) sowie in allen Pausen wurden die Kindern über den Vormittag (4,5 Stunden) motiviert das ihnen angebotene Wasser zu trinken. Die Trinkmengen wurden dokumentiert und in 4 Gruppen kategorisiert: 1: 0 < 500 ml (n = 23); 2: 500 < 1000 ml (n = 82); 3: 1000 < 1500 ml (n = 73); 4: ≥ 1500 ml (n = 71). Um 12:30 Uhr erfolgte die Kognitionstestung mithilfe computergestützter Aufgaben. Insgesamt wurden 4 Kognitionsparameter untersucht: Arbeitsgedächtnis (2-back Task), kognitive Flexibilität (Switch Task), visuell-räumliches Gedächtnis (Corsi Block Task) und inhibitorische Kontrolle (Flanker Task). Die statistische Auswertung erfolgte mittels one-way ANOVA für normalverteilte Parameter sowie mittels Kruskal-Wallis Test für nicht-normalverteilte Parameter. Der Zusammenhang zwischen der Trinkmenge und kognitiver Leistungsfähigkeit wurde mittels Korrelation nach Spearman analysiert.
Ergebnisse: Zwischen den Kategorien der Trinkmengen zeigten sich signifikante Unterschiede beim Switch Task bzgl. der Reaktionszeit (RT) der visuellen Suche für Buchstaben (p = 0,003). Bis zu einer Trinkmenge von 1000 ml Wasser reduzierte sich die RT von 76 auf 63 Sekunden (Kategorie 1 vs. 3 p = 0,04) und stieg danach wieder auf 73 Sekunden an (Kategorie 3 vs. 4 p = 0,04). Weiterführende Korrelationsanalysen bestätigten diesen Zusammenhang bis zu einer Trinkmenge von 1000 ml beim Switch-Task (p = 0,002), beim 2-back Task bzgl. des prozentualen Anteils verpasster Reaktionen (p = 0,02), und beim Corsi Block Task in Bezug auf die längste korrekte Sequenz (p = 0,03).
Diskussion: Einzelne Kognitionsparameter werden positiv durch eine gesteigerte Wassertrinkmenge beeinflusst. Unter diesen Studienbedingen erscheint eine Trinkmenge für Schüler von 1000 ml, verteilt über den Schulvormittag, von Vorteil.
Schlussfolgerung: Die Studie zeigt, dass Kinder von einer kurzfristigen, reichlichen Flüssigkeitszufuhr in Bezug auf ihre kognitive Fähigkeit profitieren. Weiterführende Studien sollten eine langfristige Implementierung einer Trinkförderung in Schulen zum Ziel haben.
Gefördert durch Uniscientia Stiftung, Vaduz
Hintergrund:Die Hyperekplexie oder das "stiffbabysyndrome" ist durch erhöhten Muskeltonus, nächtliche Myoklonien undverstärkte Schreckreaktionauf auditive, somatosensorische und visuelle Stimuli1gekennzeichnet.Sowohl familiäre Verläufe mit autosomal-dominantem oder-rezessivem Erbgang als auch sporadische Fälle sind bekannt. Bei ca. 30% der Patienten kann eine Mutation im GLRA1-Gen als Ursache der neuronalen Hyperexzitabilität2 nachgewiesen werden. Mutationen in anderen Genen wurden ebenfalls beschrieben.2017 wurde unter dem Begriff ATAD1-assoziierte Enzephalopathie eine seltene neurologische Erkrankung beschrieben, die sich ähnlich wie das "stiffbabysyndrome"präsentiert3.
Patient:Unsere Patienten sind männliche Zwillinge, die unmittelbar nach der Geburt durch einen erhöhten Muskeltonus, Hyerexzitabilitätbei Berührung, Trinkschwäche, Muskelzittern, spärliche Spontanmotorik und fehlende Blickfolgebewegungen auffielen.Therapieversuche mit Clobazam, Baclofen und Phenobarbital konnten den erhöhten Muskeltonus nicht verbessern.Die Routine-Laboruntersuchungen, EEG, Schädel Sonographie, cMRT, Stoffwechseldiagnostik, EMG und Muskelbiopsie ergaben keinenpathologischen Befund. Auch eine molekulargenetische Diagnostik der häufigsten Hyperekplexie-Gene war unauffällig.
Ergebnis und Verlauf:Aufgrund des kürzlichpublizierten klinischen Bildes einer autosomal-rezessiv erblichenATAD1-assoziiertenEnzephalopathie wurde eine entsprechendemolekulargenetische Untersuchung veranlasst. Dabei konnte diehomozygote ATAD1-Missense-Mutation c.794G>A/p.(Arg265Lys) bei den Zwillingen und eine heterozygote Anlageträgerschaft der Eltern nachgewiesen werden.Trotz der eingeleitetenPerampanel-Therapieverstarben beide Kinder im Alter von 4,5 Monaten infolge schwerer hypoxischer Episoden.
Diskussion:ATAD1kodiert dieThorase, eine AAA+ ATPase, die an der Internalisierung postsynaptischer AMPA-Rezeptoren beteiligt ist. Während biallelische„loss-of-function“-Mutationen in ATAD1zu einer erhöhten Dichte an exzitatorischen AMPA-Rezeptoren in Neuronen führen3, kommt es durch die kürzlich beschriebene homozygote „gain-of-function“-Mutation p.(His357Argfs*15) zu einer verringerten Dichte4. Die mit diesen ATAD1-Mutationen assoziierte Klinik ähnelt dem "stiffbabysyndrome" und die Betroffenen manifestieren eine Hyperekplexie. Bei der differentialdiagnostischen Abklärung eines erhöhten Muskeltonus in der Neugeborenenperiode sollte daher auch eine ATAD1-assoziierte Enzephalopathie berücksichtigt werden. Aufgrund des pathophysiologischen Zusammenhangs mit dem AMPA-Rezeptor-Stoffwechsel kann ein Therapieversuch mit Perampanel erwogen werden, am ehesten bei wahrscheinlich zu einem Funktionsverlust führenden ATAD1-Mutationen3,5.
Hintergrund:
Das kongenitale bilaterale perisylvische Syndrom (CBPS) ist eine seltene kortikale Migrationsstörung, die mit typischen klinischen und bildmorphologischen Merkmalen, wie der bilateralen symmetrischen Polymikrogyrie, v.a die perisylvische Region betreffend, assoziiert ist. Zu den klinischen Merkmalen von CBPS gehören oromotorische Störungen, Epilepsie und globale Entwicklungsverzögerungen. Bislang bekannte Ursachen für Polymikrogyrie und CBPS im Besonderen, sind kongenitale Infektionen sowie vaskuläre und hypoxische Schäden. Monogenetische Ursachen wurden bislang kaum berichtet.
Fall:
Wir berichten von einem Mädchen mit komplexer neuronaler Migrationsstörung mit Polymikrogyrie, v.a. die perisylvische Region betreffend und Corpus Callosum Hyperplasie. Im Alter von 10 Monaten zeigte das Kind eine globale Entwicklungsverzögerung, therapieschwierige Epilepsie und ausgeprägte oromotorische Störung. Hinweis auf eine stattgehabte kongenitale Infektion, vaskuläre oder hypoxische Genese fanden sich nicht.
Methode:
Es erfolgte eine Trio-Exom-Untersuchung (WES) mit DNA-Proben isolierter Lymphozyten des Indexpatienten und seiner biologischen Eltern.
Ergebnisse:
Mittels Trio-WES identifizierten wir eine bislang unbekannte de novo Deletion von 22 Basenpaaren in MAST1 (NM_014975.2), c.669_689del, [p.(Gln223_Asp230delinsHis)]. Sanger-Sequenzierung und Segregationsanalyse bestätigten die Variante und sein de novo Auftreten. Die Deletion betrifft eine hoch konservierte Region des Proteins, und wird ins silico als pathogen vorhergesagt. Zum Zeitpunkt der Identifikation war MAST1 kein krankheitsassoziiertes Gen. Mittels GeneMatcher fanden wir sechs weitere Fälle mit de novo MAST1-Mutationen, definiert als mega-corpus-callosum syndrome with cerebellar hypoplasia and cortical malformations (MCCCHCM). Die Daten wurden kürzlich veröffentlicht.
Diskussion:
MAST1 gehört zu den Mikrotubuli-assoziierten Serin/Threonin-Kinasen und spielt eine tragende Rolle in der Aufrechterhaltung der Synapsenstruktur sowie der Signaltransmission an der neuromuskulären Endplatte. Die höchste MAST1 Expression im sich entwickelnden Gehirn wurde in der 13. und 22. Schwangerschaftswoche (SSW) festgestellt. Dies entspricht dem Zeitpunkt der bedeutendsten neuronalen Migration, welche zwischen der 12. und der 24. SSW erfolgt. Die kortikale Entwicklung inklusive der späteren neuronalen Migration setzt sich bis in den 5. Lebensmonat fort. Die perisylvische Region gehört dabei zu den ersten sich entwickelnden Sulci. Unsere Patientin sowie die sechs weitere Patienten mit MAST1-Mutationen, zeigen alle die klinischen Leitsymptome eines CBPS. Bildmorphologisch zeigen alle sieben Fälle eine komplexe Migrationsstörung mit hyperplastischem Corpus Callosum, Ventrikeldilatation und Pons Hypoplasie.
Schlussfolgernd sollten MAST1-Mutationen als monogentische Ursache, bei Auftreten des klinischen oder bildmorphologischen Bildes von CBPS, in Betracht gezogen werden.
Dynamin-1 (DNM1) ist eine ausschließlich im Gehirn exprimierte GTPase im präsynaptischen Terminal. Heterozygote DNM1-Mutationen wurden primär bei Patienten mit epileptischer Enzephalopathie Typ 31 beschrieben. Die meisten Patienten entwickeln eine BNS-Epilepsie, zusätzlich beschrieben sind eine schwere Intelligenzminderung, muskuläre Hypotonie sowie ausbleibende Sprachentwicklung, der Großteil der Patienten ist nicht gehfähig. Im Verlauf wurden mildere Phänotypen mit Intelligenzminderung ohne Epilepsie berichtet. Wir ergänzen das klinische Spektrum von DNM1-Mutationen um zwei weitere Patienten und verdeutlichen damit die klinische Heterogenität.
Der 4-jährige Junge (Patient 1) wies eine globale Entwicklungsverzögerung und muskuläre Hypotonie auf. Unter Fördermaßnahmen waren gute Fortschritte zu verzeichnen, das freie Laufen sowie Sprechen in komplexen Sätzen wurden erreicht. Im Alter von 18 Monaten trat ein unkomplizierter Fieberkrampf auf. Weitere Krampfanfälle wurden nicht beobachtet. Wiederholte EEG-Untersuchungen fielen unauffällig aus. Labor- und Stoffwechseldiagnostik sowie eine cMRT ergaben unauffällige Befunde. In der Trio-Exom-Analyse zeigte sich eine de novo missense Variante in der PH-Domäne des DNM1-Gens.
Ein 12 Monate altes Mädchen (Patientin 2) wurde aufgrund muskulärer Hypotonie und globaler Entwicklungsverzögerung vorgestellt. Zu diesem Zeitpunkt konnte das Kind nicht frei sitzen, lautierte kaum, zeigte kein sinnvolles Spiel und bot stereotype Handbewegungen. Krampfanfälle wurden nicht berichtet. Ein erstmalig abgeleitetes EEG zeigte eine multiregionale Anfallsbereitschaft. Die Durchführung einer cMRT wurde von der Familie abgelehnt. Eine Trio-Exom-Analyse ergab eine de novo Variante in der middle-Domäne des DNM1-Gens.
Während DNM1-Mutationen primär bei epileptischer Enzephalopathie mit Beginn im Säuglingsalter beschrieben wurden, weisen unsere Patienten im Alter von 1 und 4 Jahren keine Epilepsie auf. Bei beiden Patienten bestehen jedoch eine Entwicklungsstörung sowie eine muskuläre Hypotonie, wie dies vorbeschrieben ist. Das Ausmaß der Entwicklungsstörung reicht dabei von mäßig (Patient 1) bis schwer (Patient 2).
Die bisher beschriebenen Patienten zeigten alle eine praktisch ausbleibende Sprachentwicklung. Im Kontrast dazu zeigte Patient 1 eine Sprachentwicklungsverzögerung, lernte jedoch in komplexen Sätzen zu sprechen.
Varianten in der PH-Domäne wurden bereits bei Patienten mit Entwicklungsstörungen ohne Epilepsie beschrieben, die bei Patient 1 nachgewiesene Variante ist bisher nicht vorbeschrieben. Die bei der Patientin 2 vorliegende Variante wurde bereits bei einem Patienten mit schwerer Entwicklungsstörung und nicht-epileptischen Myoklonien berichtet.
Eine Epilepsie ist kein obligates Merkmal von Patienten mit DNM1-Mutationen. Typisch sind eine globale Entwicklungsstörung sowie eine muskuläre Hypotonie, wobei der Schweregrad variieren kann. Einzelne betroffene Patienten können eine gute verbale Verständigung erreichen.
Hintergrund: Das Helsmoortel-Van-der-Aa-Syndrom ist ein kürzlich beschriebenes Syndrom mit kraniofazialen Dysmorphien, angeborenen Augendefekten und einer, mit Mutationen im ADNP-Gen verbundenen, Entwicklungsverzögerung. Betroffene Personen weisen autistische Merkmale, geistige Behinderungen, eine Sprach- und motorische Entwicklungsverzögerung auf. Eine Korrelation zwischen Genotyp und Phänotyp ist in manchen Studien beschrieben.
Hier präsentieren wir zwei Kinder mit dem obigen Syndrom, gleiche Mutation im ADNP-Gen, aber einen unterschiedlichen Phänotyp.
Fall 1: Das erste Kind wurde uns im Alter von 9 Monaten wegen globaler Entwicklungsverzögerung und sekundärer Mikrozephalie vorgestellt. Das Kind wurde in der 38+6 SSW per Notfallsectio geboren. (Gewicht 2680 g, Länge 48 cm, Kopfumfang 34 cm, Apgar 10/10, pH 7,24). Bei respiratorischer Anpassungsstörung wurde intensiv medizinisch versorgt. Bei Schluckbeschwerden wurde die Nahrung initial sondiert. Im Alter von 5 Monaten fiel der Mutter die verzögerte Entwicklung ihres Kindes auf. Eine Kopfgröße von 40cm wies auf eine sekundäre Mikrozephalie hin.
Aufgrund der globalen Entwicklungsverzögerung und der Mikrozephalie wurde sie für weitere Untersuchungen herangezogen. Diese, einschließlich Chromosomenanalyse waren unauffällig.Aufgrund der globalen Entwicklungsverzögerung, Mikrozephalie und Gesichtsanomalien wurde eine genetische Abklärung mit Mikrozephalie-Panel und Trio-Exom-Sequenzierung eingeleitet, welche eine Mutation im ADNP-Gen p.Arg730 zeigten.
Fall 2: Das zweite Kind wurde in der 38+1 SSW per Sectio, bei Placenta praevia geboren. (Gewicht 3200, Länge 50 cm, Kopfumfang 38 cm, Apgar 8/10/10, pH 7,29). Sie wurde am zweiten Lebenstag wegen zyanotischen Episoden mit Apnoe und Muskelkrämpfen an uns überwiesen. Außerdem bestanden eine Makrozephalie, Gesichtsdysmorphien und eine Rumpfhypotonie.
Die Untersuchungen einschließlich der neurometabolischen Diagnostik waren unauffällig.
Das MRT-Schädel zeigten ein subdurales Hämatom und eine klaffende Darstellung der Sylvian-Fissuren beidseits. Echokardiographisch zeigten sich Zeichen einer pulmonalen Hypertonie. Die Chromosomanalyse war unauffällig. Aufgrund der wiederkehrenden Episoden wurde eine Therapie mit Clonazepam begonnen. Die Trio-Exom-Sequenzierung zeigte die gleiche Mutation im ADNP-Gen wie beim ersten Patienten.
Schlussfolgerungen: Obwohl die Literatur eine Korrelation zwischen Genotyp und Phänotyp bei diesem seltenen Syndrom vorschlägt, zeigen wir, dass das klinische Erscheinungsbild sehr unterschiedlich sein kann. Bei Kindern mit autistischen Merkmalen und Augenanomalien sollte dieses Syndrom in die Differentialdiagnose einbezogen werden.
Hintergrund: Das Gen NKX2-1 kodiert für den thyreoidalen Transkriptionsfaktor 1 (TTF1), der in der frühembryonalen Entwicklung von Schilddrüse, Lunge, Basalganglien und Hypothalamus eine wichtige Rolle spielt. Mutationen in NKX2-1 sind ursächlich für (1) das Brain-Lung-Thyroid-Syndrom [OMIM #610978] und (2) die benigne hereditäre Chorea [OMIM #118700]. Bisher sind ca. 100 Fälle publiziert.
Methoden: Identifikation von Patienten mit Mutationen im NKX2-1 Gen, die im Zeitraum der letzten 10 Jahre am Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin Freiburg ambulant oder stationär betreut wurden und Analyse der Krankenakten.
Ergebnisse: Von 2009 bis 2019 wurden bei 6 Kindern Mutationen im NKX2-1 Gen festgestellt (Einzelgen-Sequenzierung bei n=5; Paneldiagnostik bei n=1). Bei allen Kindern erfolgte die Diagnosestellung im Rahmen der Abklärung einer Bewegungsstörung (dyston n=1; ataktisch n=2; ataktisch-choreatiform n=3). Bei 2 Patienten wurde eine isolierte benigne hereditäre Chorea diagnostiziert. Bei den restlichen 4 Patienten bestanden Auffälligkeiten der Schilddrüse, bei zwei davon zusätzlich auch ein Lungenphänotyp (Vollbild Brain-Lung-Thyroid-Syndrom). Bei den adoleszenten Patienten zeigt die Bewegungsstörung einen stabilen Verlauf.
Schlussfolgerungen: Auch bei der Diagnostik isolierter Bewegungsstörungen sollte an die Möglichkeit NKX2-1 assoziierter Phänotypen gedacht werden. Für NKX2-1 assoziierte Phänotypen mit Schilddrüsen-Beteiligung steht mit der TSH-Bestimmung ein billiger und ubiquitär verfügbarer Screening-Parameter zur Verfügung. Die Früherkennung ist wichtig für das Monitoring assoziierter Komplikationen wie Tumorneigung oder Entwicklung interstitieller Lungenerkrankungen, die bereits im jungen Erwachsenenalter auftreten können.
Hintergrund: Als Pontocerebelläre Hypoplasien (PCH) wird eine heterogene Gruppe von Affektionen mit vermindertem Volumen von Pons und Kleinhirn bezeichnet. Der Begriff ist lediglich deskriptiv. Die Pathogenese ist heterogen (prä-/peri-natal erworben, genetisch malformativ bzw. degenerativ). Wichtige Vertreter sind PCH Typ 1-12 (mit OMIM Eintrag), Formen mit Mutationen in CASK, VLDLR, RELN, sowie PCH assoziiert mit seltenen Varianten in WDR81, ITPR1, DKC1, CNTNAP1, CDG-Syndrome, Dystroglycanopathien, Tubulinopathien und zerebelläre Disruption nach extremer Frühgeburtlichkeit.
Methode: Vorstellung eines bildbasierten diagnostischen Algorithmus zur Diagnosefindung bzw. möglichst gezielter genetischer Abklärung, basierend auf Literaturstudium und Analyse eigener Beobachtungen.
Resultate: Einzelne infra-tentorielle (und allenfalls zusätzliche supra-tentorielle) Befunde sind wegweisend für einige PCH-Formen: Balkenmangel und Mesencephalon in Form der Zahl Acht (PCH9), nicht lobulierter Vermis (VLDLR, RELN, MAB21L1). Ein „Dragonfly Muster“ im koronaren MRI (Vermis weniger betroffen als die Hemisphären) ist typisch für PCH2, PCH4, PCH9, ebenso für zerebelläre Disruption nach Frühgeburt. Andere Formen (z.B. CASK) haben kein „Dragonfly Muster“. Bei PCH1 und PCH2 können sich zerebelläre Zysten entwickeln. Eine Hyperintensität des zerebellären Kortex wurde im Rahmen von PCH2 und PCH7 beobachtet. Bei einigen Formen (PCH1B, PCH6) kann die Volumenminderung der Pons fehlen, jene des Cerebellums bei PCH10, was die Einordnung in die Gruppe der PCH erschwert. Eine verminderte supratentorielle Gyrierung kann bei CASK, RELN, und VLDLR assoziierten Formen vorkommen. Aufgrund fehlender bzw. ungenügender Illustrationen in Publikationen ist eine nähere Charakterisierung der Bildgebung bei selteneren PCH-Formen noch nicht möglich. Der klinische Kontext [z.B. periphere Neuropathie und Degeneration von Motoneuronen (PCH1), Atrophie des N. opticus (PCH3, CASK), kongenitale Kontrakturen und Ateminsuffizienz (PCH4)] kann entscheidend zur näheren Einordnung beitragen.
Schlussfolgerung: Eine genaue Bildanalyse kann dazu beitragen, die Differentialdiagnose einzuschränken und eine gezieltere genetische Abklärung zu ermöglichen. Einzelne Konstellationen sind diagnostisch.