Für eine ganzheitliche Behandlung von psychiatrischen Erkrankungen ist das Verständnis der komplexen Zusammenhänge zwischen den somatischen Komponenten sowie Umwelteinflüssen, Lebensereignissen- und Gewohnheiten wichtig. Die Herausforderung einer solchen Systemmedizin besteht darin, die Verknüpfungen so zu verstehen, dass die Ursachen für die einzelne Erkrankung festgestellt werden kann und eine zielgenaue Behandlung eingeleitet wird. Der Ansatz von Big Data, künstlicher Intelligenz und prädiktiven Modellen spielt eine sehr große Rolle, um diese Zusammenhänge besser zu verstehen und innovative Lösungsansätze in Diagnostik und Therapie für das Fach zu entwickeln. Die Grundlagen werden von Eickhoff dargestellt. Koutsouleris & Meisenzahl stellen prädiktive Modelle vor, mit denen sie den Verlauf von schizophrenen und affektiven Ersterkrankungen auf der Grundlage von klinischen und biologischen Datenbanken vorhersagen, um diese besser therapeutisch beeinflussen zu können. Winterer hat mit Kollegen ein innovatives Vorhersagemodell für das Risiko des postoperativ einsetzenden Delirs und die oft auftretenden chronischen kognitiven Defizite entwickelt, um diesen vorzubeugen. Zielasek und Mayfrank-Gouzoulis identifizierten anhand 5.765 Krankenakten Risikogruppen und klinische Konstellationen, die mit einem hohen Risiko für frei¬heitsentziehende Maßnahmen (FEM) assoziiert sind. Dies bietet die Möglichkeit klinische Handlungsstränge besser anzupassen, und freiheitsentziehenden Maßnahmen vorzubeugen.
Charakteristika und Ziele von Big-Data-Analytik in der Psychiatrie
Simon B. Eickhoff, Jülich (Germany)
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Simon B. Eickhoff, Jülich (Germany)
Gerade psychiatrische Erkrankungen sind dadurch gekennzeichnet, dass wenig quantitative, d.h., objektiv messbare, Parameter für die (Differenzial-) Diagnose zur Verfügung stehen und individuelle Verläufe nur schwer vorherzusagen sind. "Big-data" und künstliche Intelligenz versprechen eine Revolution in dieser Hinsicht und eine neue Ära biologischer Marker. Entsprechend groß sind die Erwartungen und Versprechungen aber auch Vorbehalte und Sorgen.
In meine Vortrag werde ich einen Überblick über die Grundlagen maschinellen Lernens und künstlicher Intelligenz geben, Anwendungsbeispiele von KI Methoden im Bereich der Psychologie und Psychiatrie zeigen und potentielle Entwicklungen beleuchten. Schwerpunkt meiner Ausführung ist es dabei, dem Kliniker Intuitionen und Verständnis für Möglichkeiten und Grenzen dieser Verfahren zu geben.
Schließen werde ich mit ethischen und gesellschaftlichen Implikationen einer neuen KI-Psychiatrie
Prädiktives Modelling zur Vorhersage von Delir und protrahierter kognitiver Störungen (Projekt BIOCOG)
Georg Winterer, Berlin (Germany)
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Georg Winterer, Berlin (Germany)
Post-operative kognitive Störungen werden zum zunehmenden Problem in unserer alternden Gesellschaft. Betroffen sind sowohl die Patienten (Verlust von Selbstständigkeit, Pflegebedürftigkeit) als auch die Gesellschaft insgesamt. Die geschätzten Kosten liegen jährlich in den USA bei $ 130 Milliarden, in Deutschland bei € 30 Milliarden. Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt (F&E) BioCog (Biomarker Development for Postoperative Cognitive Impairment in the Elderly, www.biocog.eu) hat das Ziel bei älteren chirurgischen Patienten das individuelle Risiko, post-operative kognitive Störungen zu entwickeln, bereits prä-operativ zu bestimmen. Gefördert wurde BioCog von der Europäischen Union, dem Berliner Institut für Gesundheitswissenschaften (BIG) und privaten Unternehmen mit bislang insgesamt € 10 Millionen. Damit wird es zukünftig in der klinischen Routine möglich sein, bei Risikopatienten das Risiko zu reduzieren, z.B. durch Überprüfung der Notwendigkeit/Art des chirurgischen Eingriffs, prä- und peri-operative Anpassung der Medikation u.a.. Als notwendige Grundlage der Prädiktion wurde im Rahmen von BioCog seit 2014 in Berlin die weltweit größte Datenbank etabliert (N = 1130 Patienten). Die Datenbank enthält umfangreiche prä- und post-operative klinische und neuropsychologische Daten inklusive Laborwerte sowie bildgebende Daten des Gehirns (MRT) und –Omics Parameter (genomweit DNA/RNA). Das auf dieser Grundlage entwickelte medizinische Expertensystem (Medical App) verwendet selbst-lernende Algorithmen womit sichergestellt wird, dass sich der Prädiktionsalgorithmus bei klinischer Anwendung zukünftig kontinuierlich verbessert. Aktuell wird die Medical App für die CE Zertifizierung vorbereitet. Die Einführung auf dem deutschen und internationalen Markt ist für 2021 vorgesehen.
Determinanten freiheitsentziehender Maßnahmen in der stationären psychiatrischen Versorgung
Olaf Karasch, Köln (Germany)
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Olaf Karasch, Köln (Germany)
Freiheitsentziehende Maßnahmen in der Versorgung psychisch Erkrankter stellen das Versorgungssystem vor erhebliche Herausforderungen, da sie für die Betroffenen und ihre Familien zu erheblichen Belastungen führen. In der hier vorgestellten Studie stand die Frage im Vordergrund, ob sich durch eine lokale Vollerhebung aller Fälle von unfreiwilligen stationären psychiatrischen Aufnahmen Risikofaktoren identifizieren lassen, aus denen sich möglicherweise Präventionsmaßnahmen ableiten lassen.
Es wurden daher die Versorgungsdaten von 1773 unfreiwillig stationär behandelten Fällen aller Kölner psychiatrischer Kliniken des Jahres 2011 analysiert. Diese Gruppe umfasste sowohl Patientinnen und Patienten, die primär unfreiwillig stationär psychiatrisch aufgenommen wurden, als auch Patientinnen und Patienten, bei denen es während eines freiwilligen stationären Aufenthaltes zu einer Statusänderung kam. 3991 freiwillige stationäre Behandlungsfälle bildeten die Kontrollgruppe. Insbesondere organische psychische Störungen und Schizophrenien sowie andere primäre psychotische Störungen waren in der Gruppe der unfreiwillig aufgenommenen Fälle überrepräsentiert. Mittels einer Entscheidungsbaumanalyse (Chi Square Automatic Interaction Detector) konnte gezeigt werden, dass diagnoseabhängig eine Differenzierung nach weiteren Risikofaktoren erforderlich ist, um individuelle Präventionsstrategien zu entwickeln. So spielt bei organischen psychischen Störungen neben der Diagnose vor allem die Uhrzeit der stationären Aufnahme eine wichtige Rolle, während bei Schizophrenien eine fehlende ambulante Vorbehandlung im Vordergrund stand.
Entscheidungsbaumanalysen haben für klinische Prädiktionsalgorithmen bei komplexen Versorgungsprozessen wie unfreiwilligen stationären psychiatrischen Behandlungen den Vorteil einer intuitiv anschaulichen Ergebnisdarstellung, indem sie Risikofaktoren hierarchisieren und damit die Entwicklung diagnosespezifischer Präventionsmaßnahmen erleichtern.