Der Einsatz qualitativer Methoden in der psychiatrischen Forschung trägt auf mehreren Ebenen zur Entwicklung einer personenzentrierten Psychiatrie bei: Erstens ermöglichen sie einen empirischen Zugang zum intersubjektiven Sinn psychischer Störungen und generieren damit ein Wissen über psychische Phänomene jenseits standardisierter Diagnosekriterien. Qualitative Methoden eignen sich z.B. für die Erfassung der subjektiven Bedeutung des Lebens mit einer Depression und können so zur Analyse bidirektionaler Wechselwirkungen zwischen biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren beitragen. Zweitens können die subjektiven Perspektiven der Nutzenden wie auch der Professionellen zur Identifizierung von Schwachstellen und Zugangshürden bestehender Versorgungs- und Behandlungsangebote sowie und für die Entwicklung und Evaluation von personenzentrierten Angeboten genutzt werden. Dabei erlauben qualitative Methoden aufgrund der Offenheit die Identifikation von „blinden Flecken“ in der Versorgung, die in standardisierten Studien nicht erfasst werden. Drittens ergeben sich durch die explizite Berücksichtigung von Kontextfaktoren Hinweise darauf, welche (unerwarteten) Faktoren die Wirksamkeit bestimmter Interventionen beeinflussen können. Dieses Wissen ist unverzichtbar, um z.B. Befunde aus kontrollierten klinischen Studien hinsichtlich deren Übertragbarkeit in den Versorgungsalltag einordnen und bei der Implementierung neuer Versorgungskonzepte entsprechend berücksichtigen zu können. Während qualitative Methoden in der psychiatrischen Forschung eine zunehmende Rolle spielen, stellt deren Anwendung viele Forschende hinsichtlich der methodischen und ethischen Implikationen vor Herausforderungen. Die Vorträge thematisieren neben Gemeinsamkeiten und Besonderheiten qualitativer Verfahren im Kontext psychiatrischer Forschung auch ethische und methodische Schwierigkeiten und verdeutlichen exemplarisch den Gewinn qualitativer Verfahren für die psychiatrische Forschung und Praxis.
Fremdverstehen in der Anamnese: rekonstruktive Forschung in der Praxis
Heiko Löwenstein, Köln (Germany)
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Autor:in:
Heiko Löwenstein, Köln (Germany)
Abstract
Für die Diagnostik psychiatrischer Erkrankungen ist das Anamnesegespräch essentiell: Insbesondere bei der psychiatrischen Anamnese erhalten neben der Erfassung der Symptombelastung und des Krankheitsverlaufs subjektive und soziale Aspekte besonderes Gewicht, um zu verstehen:
• Welchen subjektiven Sinn verbindet unser Gegenüber mit seinem (Krankheits-)Erleben (z. B. Strafe Gottes)?
• Welche Prägung hat die Persönlichkeit im Zuge der Sozialisation erfahren (z. B. Fremdzuschreibung durch Bezugspersonen)?
• Welchen Sinn haben heute krankhaft erscheinende und obsolet gewordene Verhaltensweisen im Biographieverlauf erfüllt (z. b. Schutz oder Bewältigung)?
• Welche gesellschaftlich vermittelten Deutungsmuster behindern das Sprechen über psychische Belastungen (z. B. aus Scham)?
• Welche therapeutischen Maßnahmen können verstanden und angenommen werden, weil sie subjektiv Sinn machen – und welche nicht (z. B. Psychotherapie)?
Qualitativ-rekonstruktive und biographieanalytische Forschung widmet sich Fragestellungen nach subjektivem und gesellschaftlichem Sinn. Die dort entwickelten Methoden und Heuristiken werden in aktuellen Ansätzen Sozialer Arbeit verstärkt zur Fundierung einer explizit sozialen Diagnostik herangezogen. Hieran können Diskurse anschließen, inwiefern sich eine vergleichbare Adaption qualitativ-rekonstruktiver Forschungsmethoden für die fachärztliche Praxis empfiehlt oder ob diese Kompetenz zur sozialen Diagnostik im Rahmen der multiprofessionellen Zusammenarbeit stärker zu berücksichtigen ist.
Der Beitrag verfolgt das Ziel:
(1) die Grundlogik des rekonstruktiven Fremdverstehens zu skizzieren,
(2) seinen potentiellen Ertrag anhand von Belegstellen am Material zu veranschaulichen,
(3) Anpassungsmöglichkeiten und Abkürzungsverfahren dieser Forschungsmethodik für die Praxis aufzuzeigen und
(4) Diskussionsanreize für die weitere Entwicklung der psychiatrischen Versorgung unter besonderer Berücksichtigung der multiprofessionellen Zusammenarbeit zu geben.
Der Sinn psychischer Störungen: biografische Forschung in der Psychiatrie
Silvia Krumm, Günzburg (Germany)
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Autor:in:
Silvia Krumm, Günzburg (Germany)
Psychische Erkrankungen und Biografie hängen eng und untrennbar zusammen: Biografische Erfahrungen können psychische Störungen (mit)bedingen und spielen daher für die Anamnese eine wichtige Rolle. Gleichzeitig kann eine psychische Erkrankung den weiteren Lebensverlauf beeinflussen und biografische Neuausrichtungen notwendig machen. Um eine größtmögliche, vom individuellen Bedarf ausgehende soziale Teilhabe von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen zu erreichen, ist ein umfassendes Wissen über den biografischen Kontext unverzichtbar.
Gegenüber den „objektiven“ Fakten des Lebenslaufs verweist die Biografie auf die subjektive Sicht des handelnden Individuums und auf den (subjektiven) Sinngehalt sozialer Handlungen. Autobiografische Erzählungen von Menschen mit psychischen Erkrankungen können als Ausdruck eines dynamischen, lebenslang andauernden Krankheitsverarbeitungsprozesses verstanden werden, der biografische Sinnstiftung und damit Identitätsarbeit ermöglicht.
Die Analyse von (subjektivem, latentem) Sinn im Rahmen einer autobiografischen Erzählung zielt dabei nicht nur auf den individuellen Umgang (z.B. Krankheitstheorie, Bewältigungsstrategien) mit einer psychischen Erkrankung, sondern kann auch soziokulturelle Regeln des Umgangs mit psychischer Krankheit freilegen. Der Vortrag führt in die methodischen Grundlagen der biografischen Methode (Datenerhebung – und Auswertung) ein und zeigt den Nutzen für das Verständnis psychischer Erkrankungen.