Die DGPPN hat 2013 die evidenzbasierte S3-Leitlinie „Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen“ herausgegeben. 2019 wurde die Leitlinie in einem umfassenden standardisierten Prozess der Evidenzrecherche und -bewertung und der strukturierten und alle Beteiligten umfassenden Konsensusbildung grundlegend überarbeitet. Damit hat sie eine hohe Akzeptanz. Sie ist eine der wenigen diagnoseübergreifenden Leitlinien. Durch die Leitlinie erfuhren psychosoziale Interventionen eine wissenschaftliche Aufwertung. Dennoch ist ein Großteil der Leitlinienempfehlungen mit dem höchsten oder zweithöchsten Evidenzgrad in vielen Regionen immer noch nicht umgesetzt. Gründe hierfür werden in diesem Symposium diskutiert. Beispielsweise scheiterte die Umsetzung einer Zuhause-Behandlung durch gemeindepsychiatrische Teams bis vor Kurzem an der unzureichenden Vergütung der Hausbesuche. Die geringe Flexibilität des Versorgungssystem mit der organisatorischen und finanziellen Trennung von ambulant und stationär hat sich immer wieder als Hindernis für die Umsetzung der Leitlinie erwiesen. Aber auch andere Formen integrierter Versorgung, innovative Arbeitsrehabilitation (beispielsweise durch Supported Employment), die Integration von Genesungsbegleitern, Gesundheitsförderung und Recovery-Orientierung und unterstütztes Wohnen sind nur unzureichend vorhanden. Insbesondere die Umsetzung von System-Interventionen bedarf teilweise weitreichender organisatorischer und finanzieller Anstrengungen im deutschsprachigen Sozialsystemen. Dass diese Herausforderungen in der Umsetzung der zentralen Leitlinienempfehlungen bewältigbar sind, zeigen regionale Beispiele. Ob primär Versorgungsstrukturen geschaffen und Anreize für evidenzbasierte psychosoziale Therapien gesetzt oder vor allem eine Haltungs- und Paradigmenveränderung in der Psychiatrie insgesamt notwendig ist, um Kernempfehlungen der Leitlinie umzusetzen, wird aus der Sicht verschiedener an der Versorgung Beteiligter diskutiert.
Klinische Perspektive: Können wir die Leitlinie in der psychiatrischen Versorgung umsetzen?
Peter Brieger, Haar (Germany)
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Autor:in:
Peter Brieger, Haar (Germany)
Der "Gap" zwischen dem Anspruch von Leitlinien und ihrer Umsetzung ist weiterhin groß: Es gibt bislang nur begrenzte
Evidenz, dass Leitlinien tatsächlich Niederschlag in besserer Versorgungsqualität haben. Warum das so ist, wird in dem Vortrag diskutiert. Insbesondere wird darauf hingewiesen, dass evidenzbasierte Medizin und leitlinienbasierte Medizin stärker reflektiert werden müssen. Aktuelle Entwicklungen der Gesundheitspolitik wie etwa die Personalbemessung werden als Beispiel herangezogen.
Die Perspektive gemeindepsychiatrischer Träger: Spielt die Leitlinie eine Rolle im Verbund?
Nils Greve, Köln (Germany)
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Nils Greve, Köln (Germany)
Mit dem erstmaligen Erscheinen der Leitlinie "Psychosoziale Therapien" im Hahr 2013 erhielten mehrere Therapieformen erstmals den offiziellen Status leitliniengerechter Angebote, z. B. Sport- und Bewegungstherapie, künstlerische Therapieformen oder das Training sozialer Fertigkeiten. Noch deutlich einflussreicher für die weitere Entwicklung gemeindepsychiatrischer Angebote waren allerdings die vorangestellten "Systeminterventionen", mit denen die Grundlagen dessen erfasst wurden, was in unterstützenden und rehabilitativen Hilfen bereits seit Jahrzehnten gängige Praxis war: Kontinuität helfender Beziehungen, niederschwellige Erreichbarkeit auch für Menschen mit besonderen Handicaps, Vernetzung aller Angebote zu verbundförmiger Hilfe "wie aus einer Hand", im Bedarfsfall aufsuchende, an der persönlichen Lebenswelt der Betroffenen orientierte Arbeit.
Einerseits bestätigt die Leitlinie somit bereits etablierte gemeindepsychiatrische Standards. Andererseits wurden in der Überarbeitung neuere Entwicklungen der Praxis berücksichtigt, etwa Peer-Support oder Offener Dialog.
Im Beitrag werden einige dieser Entwicklungen aus der Sicht der gemeindepsychiatrischen Praxis nachvollzogen und auf ihre Bedeutung für zukünftige Perspektiven der psychiatrischen Versorgung untersucht.