Psychiatrische Behandlung, und insbesondere die stationäre Akutbehandlung in der regionalen Pflichtversorgung, steht seit jeher im hochkomplexen Spannungsfeld zwischen der Bindung an die Wünsche der Betroffenen und einer auch mit staatlicher Hoheitsmacht versehenen Pflicht, sie und andere vor Gefahren zu schützen. Hinzu kommen unterschiedliche medizinische und psychosozialen Perspektiven auf Behandlung sowie institutionelle Möglichkeiten und Beschränkungen. Die Befugnis zur Ausübung von Zwang und Gewalt bringt damit komplexe medizinische, sozialpsychiatrische sowie auch juristische und ethische Fragen mit sich.
Spätestens seit Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) im Jahr 2009 drängen wichtige menschenrechtliche Impulse dazu, die bisherige Praxis auf den Prüfstand zu stellen und der Selbstbestimmung der Betroffenen größere Bedeutung zuzumessen. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus 2011 und 2018 hat Zwangsmaßnahmen wegen der damit verbundenen schwerwiegende Grundrechtseingriffe nicht nur unter strenge Voraussetzungen gestellt, sondern hat darüber hinaus weitreichende Implikationen: Damit Zwangsmaßnahmen als Mittel letzter Wahl („ultima ratio“) tatsächlich Ausnahmesituationen vorbehalten bleiben, müssen mit neuer Dringlichkeit Ansätze und Methoden entwickelt und eingesetzt werden, die auf Zwang verzichten. In der Entwicklung dieser sogenannten „milderen Mittel“ durch Betroffene und Professionelle liegen große Herausforderungen, aber auch große Chancen für die Zukunft der klinischen Psychiatrie.
Als „mildere Mittel“ lassen sich rechtlich dabei sowohl frühzeitige, ambulante Hilfen in der Gemeindepsychiatrie als auch Maßnahmen in einer akuten Krisensituation im klinischen Alltag zu verstehen, die auf Zwangsanwendung verzichten und dieser vorbeugen. Geregelt ist die Pflicht der Anwendung milderer Mittel bereits in den meisten PsychKG der Länder, dort bei der Regelung des Angebots von Hilfen sowie als konkrete Voraussetzung von Unterbringung, Zwangsbehandlung und sonstigen Zwangsmaßnahmen. Beispielsweise können Zwangsbehandlungen in Berlin „nur als letztes Mittel“ erfolgen und soweit „weniger eingreifende Maßnahmen (…) sich als erfolglos erwiesen (haben) oder (…) nicht vorgenommen werden (können)“ (§ 57 Abs. 2 PsychKG Berlin).
Den rechtlichen Begriff der „milderen Mittel“ wollen wir einleitend darstellen und dann aus trialogischer Perspektive mit Inhalt füllen. Dafür werden wir Kliniken aus Deutschland und den Niederlanden vorstellen, die zeigen, dass und wie psychiatrische Pflichtversorgung auch derzeit schon mit eklatant niedrigeren Zahlen von Zwangsmaßnahmen angeboten wird. EX-IN-Peers und aktive Angehörige stellen ihre Erkenntnisse dazu dar, wie alternative und zukunftsweisende Herangehensweisen aussehen können und müssen.