Partizipative und kollaborative Ansätze in der Evaluation und Forschung psychiatrischer Versorgungsfelder und Alternativen dazu werden in Deutschland bisher nur begrenzt eingesetzt. Dabei ist ihr Nutzen international beschrieben; sie führen zu veränderten Forschungsstrategien und neuen Wissensformen. Zugleich sind diese Ansätze herausfordernd, stellen in der Forschung hergebrachte Machtverteilungen und Rollendefinitionen in Frage und erfordern ein eigenes Vorgehen.
In dem Symposium werden die Ansätze, Methoden und Ergebnisse aus drei partizipativ und/ oder kollaborativ aufgestellten Forschungsprojekten vorgestellt und diskutiert. Diese Zusammenstellung soll einen Eindruck von der Vielfalt vermitteln, wie sich Projekte dieser Art umsetzen und entwickeln lassen. Kollaboration meint die Zusammenarbeit von Forschenden mit und ohne Psychiatrie- und Recovery-Erfahrungen innerhalb eines Forschungsteams, Partizipation die systematische Beteiligung von Akteursgruppen vor Ort.
Das erste Projekt setzte sich mit dem Thema der barrierefreien Arbeitsplätze für Menschen mit seelischen Behinderungen auseinander. Es zeigt, dass sich zahlreiche Elemente partizipativer und kollaborativer Forschungsansätze auch im Rahmen von Qualifikationsarbeiten umsetzen lassen.
Das zweite Projekt nutzt ein partizipatives und kollaboratives Design, um die Arbeitsansätze einer Anlaufstelle Psychiatrieerfahrener in Bochum zu untersuchen, in der sich Menschen seit 20 Jahren selbstorganisiert und gegenseitig unterstützen. Das Projekt zeigt, dass partizipative und kollaborative Ansätze in der Evaluation von Projek-ten der autonomen Selbsthilfe- und -vertretung unverzichtbar sind.
Das dritte Projekt nutzt einen kollaborativen Forschungsansatz, um das Erleben und die Bewertungen von Nutzenden psychiatrischer Modellvorhaben nach §64b SGB V zu untersuchen. Es verdeutlicht die Herausforderungen der Kollaboration im Rahmen eines multizentrischen, prospektiven und kontrollierten Versorgungsforschungsdesigns.
Barrierefreie Arbeitsplätze für Menschen mit seelischen Behinderungen – eine qualitative Studie zur Ermittlung der Betroffenenperspektive
Azize Kasberg, Berlin (Germany)
Thomas Künneke, Berlin (Germany)
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Autor:innen:
Azize Kasberg, Berlin (Germany)
Thomas Künneke, Berlin (Germany)
Über die Barrierefreiheit von Arbeitsplätzen für Menschen mit „seelischen Behinderungen“ bzw. psychischen Beeinträchtigungen liegt bisher wenig evidenzbasiertes Wissen vor. Im Rahmen einer Masterarbeit widmete sich ein dreiköpfiges Forschungsteam aus Menschen mit und ohne Erfahrungsexpertise diesem Thema.
Das Ziel war es, die Erfahrungen und Standpunkte von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen zu erfahren, um ihre Teilhabe am Arbeitsleben zu fördern. In vier leitfadengestützten Fokusgruppen in Berlin und Brandenburg diskutierten 38 Menschen die Thematik. Die Auswertung erfolgte mittels einer qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring. Die identifizierten relevanten Einflussfaktoren reichten von gesellschaftlichen Herausforderungen bis zur konkreten Gestaltung von Arbeitskontexten.
„Was ich mir unter Barrierefreiheit vorstelle ist, du wachst auf, gehst irgendwo hin, und hast das Gefühl dazu zu gehören.“ (Zitat eine Teilnehmers)
Das Studiendesign wurde im Forschungsteam partizipativ festgelegt und in Teilen kollaborativ durchgeführt. Hierbei eröffneten die gegenseitige Sensibilisierung, die gemeinsame praktische Orientierung und die wertschätzende Reflexion von Machtverhältnissen neue Ressourcen, während u. A. der zeitliche Rahmen und vorherrschende psychiatrische Modelle große Herausforderungen darstellten.
Unser Fazit: bis zur Etablierung einer zugänglichen Arbeitswelt und der Inklusion von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen sind weitere partizipative Forschungsvorhaben und Öffentlichkeitsarbeit notwendig, um die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe an Arbeit und Forschung von Menschen mit „seelischen Behinderungen“ zu realisieren.
Begleitevaluation der „Bochumer Krisenzimmer“ – ein partizipativ-kollaboratives Forschungsprojekt
Jasna Russo, Neuruppin (Germany)
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Autor:in:
Jasna Russo, Neuruppin (Germany)
Im Rahmen des Landesverbands Psychiatrieerfahrener Nordrhein-Westfalen wird seit über 20 Jahren auch die gegenseitige Unterstützung in (extremen) Krisen als integrativer Teil der politischen Selbsthilfe organisiert. So verfügt die Bochumer Anlaufstelle über die Möglichkeit, zwei Personen bis zu drei Monaten aufzunehmen; gelegentliche Übernachtungen nach Bedarf sind auch möglich. Unsere Begleitevaluation wurde von einem kollaborativen Team von Forschenden mit und ohne Erfahrung mit Psychiatrisierung durchgeführt sowie mit engem Einbezug einer Gruppe von Engagierten, die das Projekt Krisenzimmer tragen. Letztere nehmen im partizipativen Ansatz die Rolle der Praxispartner*innen ein. Wir untersuchten die Inhalte und Wertprinzipien der Arbeit der Bochumer Krisenzimmer, das Verständnis von Krise und gelungener Krisenbegleitung in diesem Projekt ebenso wie die Rollenaufteilung und Alltagsorganisation. Die Methoden der Begleitevaluation umfassten Interviews mit den Mitarbeitenden sowie mit ehemaligen Bewohner*innen der Krisenzimmer. Die Ergebnisse der qualitativen Analyse dieser Interviews sowie regelmäßige Gruppengespräche mit den Praxispartner*innen zur Validierung und Vertiefung der Analyse bieten Einsichten darin, wie sich eine Krisenbegleitung jenseits des Krankheitsmodells und auf Augenhöhe gemeinschaftlich umsetzen lässt. Die kollaborativ-partizipative Forschungsweise hat ermöglicht, die Arbeit der Bochumer Krisenzimmer nach keinen klinischen Kriterien, sondern in ihrem eigenen Entstehungskontext und in Hinblick ihrer eigenen Ziele zu betrachten. Neben den gewonnenen Erkenntnissen, stellen wir auch die Komplexitäten und weitere Fragen dar, die diese Begleitevaluation aufwirft. Diese beziehen sich auf das (sozial)psychiatrische Versorgungssystem, den Einbezug der „Erfahrungsexpert*innen“ in dessen Strukturen – sowie auf Prozesse der Wissensgenerierung zu diesen Themen.