Der Nutzen klinischer Ethikberatung im Krankenhausalltag ist vielfach belegt. In somatischen Krankenhäusern kann ein solche Beratung in moralisch schwierigen Entscheidungssituationen, zum Beispiel am Lebensende, bereits als Standard gelten. In psychiatrischen Kliniken hingegen ist bisher wenig über die Verbreitung, den Anwendungsbereich und die Grundlagen klinischer Ethikberatung bekannt, obwohl dort viele und durchaus sehr spezifische Anwendungsmöglichkeiten denkbar sind. Wir möchten deshalb, ausgehend von den medizinethischen Grundlagen, erstmals Daten über die bundesweite Verbreitung solcher Beratungen und entsprechender Gremien präsentieren. Darüberhinaus soll ein Modell der standardmäßigen Anwendung einer Ethikberatung in der Entscheidungsphase über Zwangsbehandlungen vorgestellt werden.
Grundlagen einer klinischen Ethikberatung in der Psychiatrie
Jakov Gather, Bochum (Germany)
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Autor:innen:
Jakov Gather, Bochum (Germany)
Jochen Vollmann, Bochum (Germany)
In der klinischen Versorgung tätige Professionelle sind in ihrem beruflichen Alltag nicht nur mit vielen medizinischen Herausforderungen, sondern auch mit einer Vielzahl an ethischen Problemen konfrontiert. Angebote der klinischen Ethikberatung sollen ihnen dabei helfen, zu ethisch begründeten Entscheidungen in konkreten klinischen Situationen zu kommen.
Seit einigen Jahren werden Angebote der klinischen Ethikberatung verstärkt auch in der Psychiatrie diskutiert und in psychiatrischen Krankenhäusern implementiert. Dabei bleiben grundlegende theoretische Fragen häufig ungeklärt. Was bedeutet „klinische Ethik“ überhaupt und wie lässt sie sich innerhalb der Disziplinen Philosophie und Medizin verorten? Welche Aufgaben und Ziele soll Ethikberatung in der Psychiatrie verfolgen und (wie) lässt sie sich von bereits vorhandenen Strukturen, wie z.B. Teamsupervisionen, abgrenzen? Welche Methode sollte bei der Beurteilung von konkreten Patientenfällen angewendet werden und (wie) kann man überhaupt die Wirksamkeit von klinischer Ethikberatung beurteilen?
Der Vortrag verfolgt das Ziel, die genannten Fragen zu diskutieren und Chancen und Grenzen einer klinischen Ethik in der Psychiatrie aufzuzeigen.
Klinische Ethikberatung in psychiatrischen Kliniken – eine deutschlandweite Erhebung
Lisa M. Wollenburg, Ingolstadt (Germany)
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Autor:in:
Lisa M. Wollenburg, Ingolstadt (Germany)
Das Interesse an klinischer Ethikberatung hat an deutschen Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Allerdings fehlen bisher wissenschaftlich belastbare Zahlen zur tatsächlichen Prävalenz. Die vorgestellte Erhebung gibt erstmals einen umfassenden Überblick über die Verbreitung und den Entwicklungsstand der Klinischen Ethikberatung in deutschen psychiatrischen Einrichtungen. Bei 137 teilnehmenden Kliniken (von 420 befragten) wurden in 78 (57 %) bereits Klinische Ethikberatungen durchgeführt. Von den verbleibenden Kliniken gaben 9 (7 %) an, dass eine Einführung geplant sei. Bei weiteren 13 Kliniken (9 %) stand der Aufbau solcher Strukturen noch in der Diskussion. 37 (27 %) der Kliniken hatten sich mit dem Thema noch nicht beschäftigt, oder sich bewusst gegen die Durchführung klinischer Ethikberatung entschieden. Insgesamt waren somit nur bei etwas mehr als der Hälfte der Kliniken ethische Strukturen vorhanden. Umgekehrt wurden bei etwa einem Drittel der teilnehmenden Kliniken ethische Strukturen noch nicht thematisiert, oder gar bewusst abgelehnt. Hinsichtlich der Team-Merkmale (Größe, Zusammensetzung, Fortbildung) und der praktischen Durchführung (z.B. gewählte Methode, Reaktionszeit von Anfrage bis Durchführung oder Dokumentation) konnten qualitative Unterschiede zwischen den Kliniken gefunden werden. Zusammenfassend zeigte sich, dass ethische Strukturen zwar bereits in der knappen Mehrheit der deutschen psychiatrischen Kliniken etabliert sind, es aber noch erheblichen Bedarf sowohl hinsichtlich der Verbreitung als auch der Qualität der praktischen Umsetzung gibt.
Ethikkonsile als Teil des Entscheidungsprozesses über Zwangsbehandlungen
Felizitas Schweitzer, Ingolstadt (Germany)
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Autor:innen:
Felizitas Schweitzer, Ingolstadt (Germany)
Lisa M. Wollenburg, Ingolstadt (Germany)
Andreas Sarropoulos, (Germany)
Thomas Pollmächer, Ingolstadt (Germany)
Seit 2018 werden am Zentrum für psychische Gesundheit, der psychiatrischen Klinik des Klinikums Ingolstadt, klinische Ethikkonsile angeboten. Verpflichtend sind diese vor der Beantragung der richterlichen Genehmigung einer Zwangsmedikation.
Die Ethikkonsile werden vom interdisziplinären Klinischen Ethikkomitee des Klinikums Ingolstadt durchgeführt. Es handelt sich um ein multiprofessionelles, fächerübergreifendes Team, dessen Mitglieder in klinischer Ethik fortgebildet sind. Die Ethikkonsile folgen dem Konzept der prinzipienorientierten Falldiskussion. Es nehmen immer mindestens 2 Mitglieder teil, sowie zusätzlich Behandler und ggf. Angehörige und Betreuer des betroffenen Patienten. Die Patienten selbst werden nicht persönlich einbezogen aber über die Durchführung und das Ergebnis informiert. Die Konsile erfolgten umgehend, in der Regel 1-2 Arbeitstage nach der Indikationsstellung bei nicht-selbstbestimmungsfähigen Patienten mit einer psychiatrischen Erkrankung, die der Behandlung widersprechen.
Zwischen April 2018 und April 2019 wurden 20 Konsile durchgeführt, vorwiegend zur Klärung der ethischen Aspekte einer medikamentösen Zwangsbehandlung (N=18). In einem Fall ging es um eine Sectio, in einem anderen um eine PEG-Anlage. In 18 Fällen ergab die Fallbesprechung, dass eine Zwangsbehandlung ethisch gerechtfertigt sei. In all diesen Fällen wurde schließlich eine Zwangsbehandlung richterlich genehmigt und durchgeführt. In 2 Fällen ergab die ethische Fallbesprechung keine hinreichende Grundlage für eine Zwangsmedikation, und in all diesen Fällen ist sie unterblieben.
Nach anfänglicher Skepsis der Behandlungsteams auf den entsprechenden Stationen werden die Ethikkonsile nach einem Jahr von allen Beteiligten (Ärzte, Pflege, Angehörige, Betreuer, involvierte Richter) als sehr hilfreiche Unterstützung der Entscheidungsfindung geschätzt. Mittlerweile nimmt (langsam) auch die Zahl fakultativ angemeldeter Ethikkonsile zur Klärung anderer moralischer Fragen zu.