Das Symposium widmet sich verschiedenen Aspekte der Psychiatrie in der DDR und ist eine Fortsetzung der in den letzten Jahren durchgeführten Symposien. Die interdisziplinäre Besetzung ermöglicht unterschiedliche Denk- und Forschungsansätze und versteht sich als Annäherungsversuch an eine vielschichtige Thematik. Zunächst wird untersucht, inwieweit sich psychiatrische Themen in der fiktionalen und dokumentarischen Literatur in der DDR der 1970er und 1980er Jahre finden. Solche persönlichen Erinnerungen und literarischen Illustrationen sind ein wesentliches Element einer „Gegenüberlieferung“ zu offiziellen, in modernen Diktaturen häufig anderslautenden Darstellungen. Im Weiteren wird der Frage nachgegangen, wie in der DDR mit dem Problem der Suchterkrankungen umgegangen wurde, wobei insbesondere auf die in den 1970er und 1980er Jahren vom Deutschen Hygienemuseum Dresden entwickelten und im Fernsehen ausgestrahlten Filme zum Thema Alkoholmissbrauch eingegangen wird. Analysiert wird, wie sich die Debatte um die Verantwortung des Einzelnen verschob und welche Formen der Einsicht von Betroffenen verlangt wurde. Ebenso wird auf die Erfahrungen von Menschen mit Alkoholabhängigkeit fokussiert und der Frage nachgegangen, wie diese stationär behandelt und in der ambulanten Nachsorge betreut wurden. Ziel ist es, die Erfahrungen dieser Patienten im Kontext des Gesundheitswesens und politischen Systems der DDR und der internationalen Entwicklung zu untersuchen. Abschließend wird die Rezeptgeschichte des Internationalen Symposiums über psychiatrische Rehabilitation beleuchtet, das 1963 in Rodewisch stattfand. Im Ergebnis dieses Symposiums entstanden die "Rodewischer Thesen". Doch bis auf die thesenhaften Zusammenfassungen wurden die einzelnen Referate und Diskussionsbeiträge nicht wie beabsichtigt veröffentlicht. Es werden die Gründe dafür untersucht. Nachdem diese Einzelbeiträge nun wiederentdeckt wurden, sollen sie in kommentierter Form zugänglich gemacht werden.
Das Bild der Psychiatrie in der DDR-Literatur
Thomas R. Müller, Leipzig (Germany)
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Thomas R. Müller, Leipzig (Germany)
Der Vortrag stellt fiktionale und dokumentarische Werke der DDR-Literatur der 1970er und 1980er Jahre vor, in denen die Psychiatrie thematisiert wird. Der Beitrag analysiert, welches Bild der Psychiatrie dabei entworfen wird. Gezeigt wird, dass in diesen Werken das Verhältnis zwischen Psychiatrie und Gesellschaft, die Situation in den psychiatrischen Einrichtungen und die unterschiedlichen Perspektiven von Betroffenen und Professionellen weitgehend authentisch dargestellt werden. Die DDR-Literatur nahm somit eine Ersatzfunktion für die in der DDR fehlende kritische Öffentlichkeit wahr und sollte als Quelle für die weitere Erforschung der Psychiatrie in der DDR berücksichtigt werden.
„Es liegt an Dir selbst, mach Dich nicht abhängig“ – Alkohol und Alkoholabhängigkeit im Spiegel des Gesundheitsfilms in der DDR
Viola Balz, Dresden (Germany)
Die Behandlung und Betreuung von alkoholabhängigen Menschen in der DDR am Beispiel des Krankenhauses Arnsdorf bei Dresden
Markus Wahl, Stuttgart (Germany)
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Markus Wahl, Stuttgart (Germany)
„In unserem Bauern- und Arbeiterstaat, bedürfen die Menschen nicht mehr des Alkohols, um glücklich zu sein“. Trotz dieser Parolen wurde schnell klar, dass das erwartete Verschwinden von Alkoholmissbrauch und Sucht in der DDR nicht eintreten würde. Im Gegenteil, der Pro-Kopf Verbrauch an Alkohol stieg rasch an – und damit auch die Zahl der Abhängigen. Wenn die SED in den 1950er Jahren noch behaupten konnte, dass sich Prostitution, Bettelei aber auch der Alkoholmissbrauch aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklung zum Sozialismus bald erledigen würde, war dies in den folgenden Jahrzehnten immer schwieriger; es untergrub vielmehr das staatliche Narrativ.
In seiner Stellungnahme adressiert an das Gesundheitsministerium über den Alkoholmissbrauch in der DDR vom April 1979, resümierte der Ärztlicher Direktor des Krankenhauses der Volkspo-lizei, Professor Richard Kürzinger, resignierend: „Die Trinksitten sind die gleichen geblieben, nur die Anlässe haben sich verändert“. Die angesprochenen Trinksitten, welche als soziale, gesellschaftliche Praktiken gelten können, hatten aber auch zur Folge, dass jeder auffallen musste, der bewusst auf Alkohol verzichtete. Gruppenzwang, inständige Aufforderungen und Provokationen sich dem Genussmittel hinzugeben, führten zwangsläufig zu inneren Konflikten bei denen, welche „dazugehören“ wollten, jedoch um Abstinenz rangen: den alkoholkranken Patienten.
In dem Vortrag werde ich den Fokus auf die Erfahrungen dieser Patienten vor allem in Arnsdorf zu DDR-Zeiten legen. Dafür werden zunächst die möglichen individuellen Ursachen des Alkoholkonsums diskutiert, bevor ich mich den Erfahrungen von Alkoholabhängigen während ihrer stationären Behandlung in Arnsdorf und der ambulanten Nachsorge widmen werde.
Zur Rezeptionsgeschichte des Internationalen Symposiums über psychiatrische Rehabilitation 1963 in Rodewisch
Niels Bergemann, Bad Mergentheim (Germany)
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Niels Bergemann, Bad Mergentheim (Germany)
Die Rodewischer Thesen von 1963 stellen einen Meilenstein in der deutschen Psychiatriegeschichte nach 1945 dar und haben insbesondere für die Psychiatrie der ehemaligen DDR eine besondere Bedeutung. Sie wurden 12 Jahre vor der Psychiatrie-Enquête formuliert, mit der 1975 ein Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland vorgelegt wurde.
Die Rodewischer Thesen sind das Ergebnis des „Internationalen Symposiums über psychiatrische Rehabilitation“ das vom 23. bis 25. Mai 1963 im damaligen „Fachkrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie“ in Rodewisch im sächsischen Vogtland stattfand. An dem Symposium nahmen über 120 Ärzte und Wissenschaftler aus neun Ländern teil (DDR, UdSSR und "befreundete sozialistische Länder", BRD, Frankreich, Kanada), die Vorträge wurden simultan ins Russische, Französische und Deutsche gedolmetscht. Jeder der drei Symposiumstage wurde einem Thema gewidmet: Die Rehabilitation psychisch akut und chronisch Kranker, Arbeitstherapie und Kinderpsychiatrie. Dabei wurde unter Rehabilitation nicht allein die berufliche Wiedereingliederung verstanden, sondern soziale Teilhabe im weiteren Sinne. In den abschließend formulierten „Rodewischer Thesen“ wurden zum jeweiligen Thema Empfehlungen ausgesprochen.
Während die wenige Seiten umfassenden Thesen 1965 publiziert wurden, blieben die Vorträge des Symposiums unveröffentlicht. Die seitens der damaligen Tagungsleitung geplante Publikation der Referate sowie der mitgeschnittenen ausführlichen Diskussionsbeiträge scheiterte aufgrund von politischen Widerständen – nur einige wenige Vorträge wurden, nachdem die geplante Publikation des Tagungsbandes nicht erfolgt war, anderweitig publiziert. Hingegen wurden im 10-jährigen Rhythmus nach dem Rodewischer Symposium Jubiläumsveranstaltungen begangen, wobei jeweils die wichtigen Impulse der Rodewischer Thesen für die Psychiatriereformen in Ost- und später auch Westdeutschland betont wurden; die Rodewischer Thesen stellten den entscheidenden Impuls für die Sozialpsychiatrie in der DDR dar, lange bevor sie sich in Westdeutschland entwickelte.
Erst spät, Anfang der 2010er Jahre, wurden die für die Publikation bereits vorbereiteten Manuskripte wieder aufgefunden. Eine historisch-kritische Herausgabe des bereits vor über 50 Jahren konzipierten Kongressbandes wird 2020 erfolgen und damit auch die damaligen Vorträge und vor allem ihre Diskussion der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.