Verzögert im Vergleich zu einigen anderen westlichen Ländern, beginnen auch in Deutschland unterschiedliche Initiativen, die bisherigen Objekte der Behandlung in die psychiatrische Praxis und Forschung als Wissensträger einzubeziehen. Diese Initiativen entstehen in den Zeiten der UN Behindertenrechtkonvention, welche ein grundsätzliches Umdenken im gesellschaftlichen Umgang mit den Menschen fördert, die in psychiatrische Behandlung kommen. Mit ihrem klaren menschenrechtlichen Diskurs und mit einer sozialen Betrachtungsweise, impliziert die Umsetzung der UN BRK nicht nur substanzielle Veränderungen innerhalb der Psychiatrie; vielmehr erfordert sie einen Zusammenschluss unterschiedlicher gesellschaftlicher Akteure, damit eine menschenwürdige und verantwortungsvolle Umgangsweise mit dem einsetzen kann, was üblicherweise als psychische Erkrankung bezeichnet wird. Um die Bestimmungen der BRK für Menschen mit psychiatrischen Diagnosen zur Realität werden zu lassen, ist eine Anerkennung und ein konsequenter Einbezug der distinktiven Sichtweisen und Wissensformen derjenigen Menschen, um deren Leben es in erster Linie geht, unabdingbar.
Bei den Versuchen, mit Psychiatriebetroffenen in diesem Sinne zusammenzuarbeiten, steht immer wieder der Wunsch nach übertragbaren Projektbespielen und sogenannten best practice Modellen im Vordergrund. Wesentlich seltener werden dabei die strukturellen Rahmenbedingungen berücksichtigt, die sich jedoch auf die Realisierung von Partnerschaften und Partizipation entscheidend auswirken.
Dieses Symposium nimmt sich dieser häufig vernachlässigten Fragen nach den Voraussetzungen für die Koproduktion des Wissens an. Von unterschiedlichen Standpunkten ausgehend und auf der Basis ihrer bisherigen Arbeitserfahrungen, stellen die vier Vortragenden ihre eigenen Sichtweisen auf dieses Thema dar. Die Referate sind als Anregung gedacht für alle, die neue Wege ausprobieren und zu den anstehenden Veränderungsprozessen beitragen möchten.
Generierung kollektiven Wissens in der autonomen Selbsthilfe
Kristina Dernbach, Bochum (Germany)
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Autor:in:
Kristina Dernbach, Bochum (Germany)
Die künstliche Grenze zwischen „Erfahrungswissen“ einerseits und „professionellem“ sowie „akademischem Wissen“ andererseits steckt die Rahmenbedingungen für kulturelle Überzeugungen über seelisches Leid ab und legitimiert das Monopol psychiatrischer gegenüber anderen Umgangsformen. Dabei werden das phänomenologische und das ätiologische Wissen ebenso wie das empirische Handlungswissen der autonomen Betroffenenselbsthilfe konsequent marginalisiert und allenfalls als Rohmaterial für akademische (Be)Forschung und trialogisierten Austausch anerkannt. Dies gilt in besonderem Maße für Suizidalität, konzeptualisiert als Ausnahmezustand, für den die Zuständigkeit und Notwendigkeit psychiatrischer Interventionen als gegeben vorausgesetzt wird. Diese Selbstverständlichkeit steht im starken Kontrast zu den drastisch erhöhten Suizidraten im Zusammenhang mit psychiatrischer Hospitalisierung, der fehlenden Evidenz für den Nutzen von Risikoassessments im Rahmen des traditionellen Suizidpräventionsparadigmas und nicht zuletzt zu den Narrativen Betroffener.
Eine Verlagerung des Monopols der Wissensgenerierung über Suizidalität von der „dritten Person“ hin zur „ersten Person“ (Webb, 2010) ist daher nicht nur epistemisch, sondern auch ethisch geboten. In der autonomen Betroffenenselbsthilfe findet Wissensgenerierung über Suizidalität seit Jahrzehnten vor allem informell statt. Mit dem Projekt „Suizidalität und Selbsthilfe“ des Bundesverbandes Psychiatrie-Erfahrener e.V. besteht seit Juli 2018 die deutschlandweit erste formelle Initiative, die im Rahmen von Selbsthilfe-Workshops und Telefonberatung Wissen über Suizidalität und hilfreiche Umgangsformen zusammenträgt. Am Beispiel des Projekts wird neben den bisherigen Ergebnissen auch dargestellt, wie Prozesse der Wissensgenerierung in der autonomen Betroffenenselbsthilfe aussehen können. Dabei werden Fragen der Dokumentation, Dissemination, des geistigen Eigentums und der Vereinnahmungsgefahr aufgeworfen.
Kollaboration und Partizipation in einem universitären Kontext
Sebastian von Peter, Neuruppin (Germany)
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Sebastian von Peter, Neuruppin (Germany)
Partizipative und kollaborative Forschungsansätze werden im Feld der seelischen Gesundheiten* in Deutschland nur selten eingesetzt. Noch seltener finden sie innerhalb universitärer Einrichtungen Berücksichtigung.
Im vorliegenden Beitrag sollen mögliche Gründe für den bisher nur vereinzelten Einsatz partizipativ-kollaborativer Forschungsansätze im universitären Kontext exploriert werden. Aufbauend auf konkreten Projekterfahrungen werden strukturelle Voraussetzungen, Herausforderungen und Desiderate dargestellt und diskutiert. Grundlegend ist dabei die Frage, welche kontextspezifischen Rahmenbedingungen sich vor und zu Beginn, während und zum Ende eines partizipativ-kollaborativen Forschungsprojektes hinderlich oder fördernd auswirken können.
Schlussfolgernd wird erstens ein Begriff von Kollaboration eingeführt, der diesen strukturellen Herausforderungen Rechnung trägt. Zweitens werden strukturell-institutionelle Auswege vorgestellt und diskutiert.
Wissen der ersten Person und die Frage der Deutungsmacht
Jasna Russo, Neuruppin (Germany)
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Jasna Russo, Neuruppin (Germany)
Hinter der üblichen Aufteilung in objektives und subjektives Wissen in der Psychiatrie verbirgt sich unter anderem die herkömmliche Auffassung vom biomedizinischen Modell der psychischen Krankheit als objektiv und wissenschaftlich. Die Perspektiven der ersten-Person werden dagegen nicht nur als subjektiv bzw. als nichtwissenschaftlich betrachtet, sondern auch immer nur als individuell und in der Regel in ihrer Funktion als Beleg oder höchstens Erweiterung des klinischen Expertenwissens. Mein Beitrag befasst sich mit den epistemischen Folgen einer solchen Tradition auf die psychiatrische Praxis und Forschung sowie darüber hinaus auf die gesamtgesellschaftlichen Wissens- und Handlungsressourcen in Bezug auf Verrücktheit und psychische Not. Einige Versuche, das Wissen der ersten Person zu standardisieren, zu integrieren und letztendlich zu psychiatrisieren, werde ich kritisch erläutern und über einzelne Beispiele hinaus, die Kernmechanismen solcher Prozesse näher betrachten. Im Unterschied zu verschiedenen Modellen des Einbezugs der „Erfahrungsexpertise“ in den hegemonialen medizinischen Diskurs, argumentiere ich für die Notwendigkeit eines vollständigen Wendepunkts in der offiziellen Wissensproduktion um Verrücktheit und psychische Not. Bezugnehmend auf Erkenntnisse aus meiner Dissertationsarbeit "Unmaking madness. Exploring collective first-person epistemology" berichte ich auch von Widersprüchen und Herausforderungen, die die Entwicklung einer solchen distinktiven Wissensbasis begleiten.