Im Übergang von den 1960er zu den 1970er Jahren rückte die Kritik der psychiatrischen Versorgung auch in der Bundesrepublik ins öffentliche Interesse und in den Fokus zivilgesellschaftlichen Engagements. Die Skandalisierung der Anstalt als „totaler Institution“ wurde von einer Bildproduktion (Film und Foto) begleitet, die einerseits die „Unmenschlichkeit“ und Rückständigkeit der Psychiatrie vermitteln, andererseits auch zeitgenössische Reform- und „Befreiungs“-Diskurse sowie Transformationsprozesse darstellen wollte.
Fotodokumentarisch verstandene Darstellungen wie „Schlangengruben in unserem Land“, so der Titel eines bekannten „ZEIT“-Magazins zu den Verhältnissen in den Alsterdorfer Anstalten 1979, dienten im Unterschied zu überkommenen/traditionellen Patientenfotografien oder Klinikbroschüren nicht der visuellen (Selbst-)Vergewisserung des fachpsychiatrischen Blicks oder der Darstellung „moderner“ Behandlungsmethoden. Vielmehr sollten die Fotografien der Erschütterung einer überkommenen Psychiatrie dienen und so die „Grabesstille der Mauern“ (Antonio Slavich) durchbrechen – in Deutschland, in Italien und anderen Ländern. Dabei knüpfte die öffentlichkeitswirksame visuelle Psychiatriekritik teilweise auch an Strategien an, die zuvor schon bei internen Auseinandersetzungen zwischen Klinikleitern und -trägern über den Reformstau in den alten großen Landeskrankenhäusern eine Rolle gespielt hatten.
Das Symposium möchte in die „Visual History“ der deutschen und internationalen Psychiatriekritik einführen und dabei den Schwerpunkt vor allem auf das Medium Foto legen. Gleichzeitig soll anhand ausgewählter und bislang weitgehend unbekannter regionaler/lokaler Beispiele gezeigt werden, wie erkenntnisreich und spannend sich dieses Forschungsfeld am Schnittpunkt moderner Medizin-, Medien- und Kulturgeschichte darstellt.
Bilder hinter Mauern – Fotografie im Umfeld psychiatriekritischer Bewegungen der 1960er- und 1970er-Jahre
Christof Beyer, Kiel (Germany)
Details anzeigen
Autor:in:
Christof Beyer, Kiel (Germany)
Fotografische Portraits von Patienten waren seit dem Ende des 19. Jahrhunderts geprägt von der „Blickkultur einer professionellen ärztlichen Praxis, die den Patienten als eingeschlossenen, kranken und anormalen Menschen“ konstituierte (Susanne Regener). Die Abbildung des Anstalts- bzw. Klinikraumes in Anstaltsbroschüren und Jubiläumsschriften von Kliniken diente wiederum der öffentlichen Repräsentation von Ordnung, Ruhe, Wohnlichkeit und Patientenarbeit als „Inszenierung der psychiatrischen Moderne“ (Urs Germann).
Die Produktion von Fotografien im Umfeld psychiatriekritischer Bewegungen der 1960er Jahre hatte dagegen eine wesentlich andere Stoßrichtung: Sie sollte die unmenschlichen Lebensumstände institutionalisierter Patientinnen und Patienten zeigen und sie in die Öffentlichkeit tragen um – wie im Fall der von Franco Basaglia initiierten Fotodokumentation „Morire di Classe“ von 1968 – als „Propagandawerkzeug“ (John Foot) den Zielen der psychiatriekritischen Bewegung zu dienen. Als solche waren die Fotos, die im Zuge der Psychiatriekritik bis in die 1980er Jahren entstanden, in der Tradition der sozialdokumentarischen Fotografie („concerned photography“) verortet. Aber auch die Fotografien der Psychiatriekritik kamen nicht umhin, sich zu der Gefahr der Verobjektivierung von Klinikinsassen zu verhalten, wie sie für eine spezifisch psychiatrische Ausprägung medizinischer Fotografie typisch war.
Anhand ausgewählter Beispiele fotodokumentarischer Bilder aus Deutschland, den USA und Italien sollen im Vortrag die spezifische Funktion und Bildsprache psychiatriekritischer Fotografie sowie ihrer Bezüge zur historischen „Bildwerdung des Psychiatriepatienten“ (Susanne Regener) herausgearbeitet werden.
Die „brutale Realität“ sichtbar machen! Eine Fotodokumentation aus dem Westfälischen Landeskrankenhaus Warstein (1970)
Franz- Werner Kersting, Münster (Germany)
Details anzeigen
Autor:in:
Franz- Werner Kersting, Münster (Germany)
Als die 1971 gestartete westdeutsche Psychiatrie-Enquete-Kommission 1973 einen ersten Zwischenbericht vorlegte, brandmarkte dieser die „inhumanen Lebensverhältnisse“ in den Psychiatrischen Großkrankenhäusern als „brutale Realität“ und forderte „Sofortmaßnahmen“ zu deren Überwindung.
Geprägt und in den Diskurs eingeführt hatte den Begriff der „brutalen Realität“ das Kommissionsmitglied Eberhard Kluge (1920-1993). Kluge hatte 1970 die Leitung des Westfälischen Landeskrankenhauses (heute: LWL-Klinik) Warstein übernommen und dort auch den Pfleger und Amateurfotografen Karl Klucken (1927-2010) kennengelernt. Das Zusammentreffen von Kluge und Klucken mündete in eine lokale Foto-Aktion, deren Ziel es war, die „brutale Realität“ im Bild festzuhalten.
Aus der Aktion gingen insgesamt 122 schwarz-weiß-Aufnahmen hervor. Alle Fotografien sind von Klucken selbst mit kurzen Erläuterungen und Kommentaren versehen worden. Vorgestellt wird eine repräsentative Auswahl seiner zentralen Motive und fotografischen Perspektiven. Durch Kombination der Bilder mit Kluckens eigenen Erläuterungen soll zugleich seine ‚Visualisierungsstrategie‘ veranschaulicht werden – also der Versuch des Pflegers und Amateurfotografen, den Blick und das ‚innere Auge‘ des Betrachters auf die zentrale inhaltliche ‚Botschaft‘ der Aktion zu lenken und damit auch dem Anliegen und den Erwartungen Kluges gerecht zu werden.
Die Vorstellung und Kontextualisierung der Warsteiner Fotodokumentation veranschaulicht, dass sie aufgrund ihrer spezifischen Bildauswahl und Bildsprache eine in dieser Form zum Teil einzigartige ‚authentische‘ Visualisierung sowohl der Missstände in der damaligen deutschen Anstaltspsychiatrie als auch einer wichtigen Etappe zu deren Überwindung bietet. Überdies repräsentiert die Dokumentation eine Form der zeitgenössischen Psychiatriekritik, die nicht (oder zumindest nicht primär) ‚von außen‘ kam, sondern praktisch in selbstkritischer Form ‚von innen‘, aus der Institution selbst.
Rückkehr aus dem Niemandsland – Fotos aus der Langzeit-Psychiatrie und von den Anfängen der Psychiatriereform der 1980er-Jahre in Bremen
Achim Tischer, Bremen (Germany)
Details anzeigen
Autor:innen:
Achim Tischer, Bremen (Germany)
Gerda Engelbracht, Bremen (Germany)
Als der Student Thomas Theye im Herbst 1977 im Seminar „Psychiatrie und Antipsychiatrie“ an der Universität Bremen ein Fotoprojekt in einer Außenabteilung der damaligen Bremer Nervenklinik durchführte, entstanden mehrere Serien beeindruckender Fotos aus dem Alltag einer langzeitpsychiatrischen Männer-Abteilung. Die Fotos reflektieren den psychiatriekritischen Exkurs, der Mitte der 1970er Jahre als Folge der Psychiatrie-Enquete Fahrt aufgenommen hatte. In seinem Resümee schrieb Theye: „Die Psychiatrie in Horn brachte für mich mehrere Erfahrungen: Eine irrsinnige Abgeschlossenheit der übrigen Welt, das Abschneiden der Patienten von den Vorgängen draußen, von ihren Freunden, von ihrer Arbeit, von ihren Familien und vor allen Dingen von sich selbst“.
In den 1980er Jahren fotografierten die Psychiater Dr. Henning Hülsmeier und Dr. Thomas Fischer in einer weiteren langzeitpsychiatrischen Außenstelle der Bremer Nervenklinik. Sie gehörten zu einem Team von Mitarbeiter*innen, die den Auftrag hatten, im Rahmen des Modellprojekts „Psychiatrieplan Bremen“ (1981 beschlossen) die vollständige Auflösung des Klosters Blankenburg umzusetzen. In der vierzig Kilometer von Bremen entfernten Einrichtung lebten zwischen März 1958 und Dezember 1988 bis zu 400 Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer. Hülsmeier und Fischer hatten den Anspruch, „unverfälschte Realität“ abzubilden und weder zu beschönigen noch zu skandalisieren.
Der Vortrag behandelt anhand dieser Bildbestände folgende Fragen: Gibt es Unterschiede beim Blick der Fotografen auf die abgebildeten Zustände und die Menschen? Wie hat sich der psychiatriekritische Diskurs der 1970er und 1980er Jahre in den Fotos der Amateurfotografen niedergeschlagen? Inwieweit kann eine „Visual History“ die Wandlungsprozesse der psychiatrischen Entwicklung erfassen und für die weitere Forschung nutzbar machen?