Die psychiatrische Versorgung hat sich Dank kritischer Diskurse zu den Themen „Zwang und Gewalt“, „sektorenübergreifende Versorgung“, „Evidenz und Erkenntnis“, „Partizipation und Trialog“ sowie „Multiprofessionalität“ vielerorts aus der Praixs heraus in den letzten Jahren nachhaltig verändert, ohne dass diese Veränderungen schon in eine einheitliche Theorie überführt worden wären. Das Symposium will zu der Überwindung dieses Defizits einen Beitrag leisten. Ziel ist, neue Versorgungskonzepte darzustellen und zu reflektieren. Urs Hepp (Winterthur – CH) hat in den letzten Jahren nicht nur neue Versorgungsmodelle entwickelt und umgesetzt, sondern sie auch konsequent gemäß den Kriterien der Evidenzbasierten Medizin beforscht. Er fasst solche Ergebnisse zusammen, u.a. aus seinem RCT zu Home Treatment (publiziert im Br J Psychiatry), aber auch zu einem RCT zur Wirksamkeit von Case Management. Matthias Jäger (Liestal – CH) wird sich mit einem, Peer Begleiter in dem Beitrag Ansätzen der Versorgungsorganisation widmen, die dazu beitragen können, dass die subjektive Perspektive und Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten konsequent in den Vordergrund gestellt werden und Behandlungen gegen den Willen weitestreichend vermieden werden können. Nicolay Marstrander (Fürstenfeldbruck) hat in den letzten 3 Jahren eine Klinik aufgebaut, die konsequent sektorenübergreifend behandelt (stationär/teilstationär/intensiv ambulant/ambulant). Er stellt Ergebnisse und Konsequenzen dar. Ina Jarchov-Jadi (Berlin) stellt als Pflegedirektorin am Beispiel des Weddinger Modells die Bedeutung der Multiprofessionalität für eine nachhaltige positive Entwicklung von Versorgungskonzepten dar.
Evidenz für eine gute Versorgung – wie sieht sie aus?
Urs Hepp, Winterthur (Switzerland)
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Autor:in:
Urs Hepp, Winterthur (Switzerland)
Einleitung: In der Schweiz werden nach wie vor (zu) viele Patienten im stationären Rahmen behandelt. Mit einer guten integrierten Versorgung kann die Verlagerung von stationärer zu ambulanter Versorgung gefördert werden.
Methode: Auf der Basis von nationalen und klinikinternen Daten werden verschiedene Modelle der integrierten Versorgung in der Psychiatrie vorgestellt. Im Zentrum steht eine effiziente Triage. Weitere wichtige Komponenten sind intermediäre Angebote wie Home Treatment oder Case Management.
Ergebnisse: Der Zusammenhang zwischen populationsstandardisierter Bettenzahl und stationärer Inanspruchnahme in verschiedenen Versorgungsregionen suggeriert angebotsinduzierte Effekte. Durch eine zentrale Aufnahme- und Triagestelle lässt sich eine Klinikaufnahme bei mindestens 17% der stationär zugewiesenen Patienten nachhaltig umgehen. Unter den verbleibenden akutpsychiatrischen Patienten mit klarer stationärer Behandlungsindikation lassen sich durch ein intensives Home Treatment mindestens 30% der stationären Behandlungstage einsparen. Case Management als reine Koordination hat die Erwartungen bisher nicht oder nur bedingt erfüllen können.
Schlussfolgerung: Viele Patienten könnten statt in der Klinik, bei gleicher Qualität, auch in Tageskliniken oder mit Home Treatments behandelt werden. Dafür braucht es aber eine aktive Steuerung der Patientenprozesse. Zudem müssten die finanziellen Anreize geändert werden, die zurzeit die stationäre Behandlung klar bevorzugen.
Patientenorientierte psychiatrische Versorgung ohne Zwang – Ansätze zur Annäherung an eine alte Utopie
Matthias Jäger, Liestal (Switzerland)
Andreas Ineichen, Liestal (Switzerland)
Chris Zeltner, Liestal (Switzerland)
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Autor:innen:
Matthias Jäger, Liestal (Switzerland)
Andreas Ineichen, Liestal (Switzerland)
Chris Zeltner, Liestal (Switzerland)
Die Anliegen, die psychiatrische Versorgung an den Bedürfnissen der Menschen mit psychischen Problemen, die selbige in Anspruch nehmen, auszurichten und deren subjektive Perspektive auf psychische Erkrankung und deren Behandlung in den Vordergrund zu stellen war lange keine Selbstverständlichkeit und nimmt erst seit einigen Jahren in der Debatte um Auftrag an und Kompetenzen der Psychiatrie grösseren Raum ein. Die aus der Betroffenen-Bewegung entstandene Recovery-Orientierung wurde inzwischen von vielen psychiatrischen Institutionen aufgenommen und in mehr oder weniger umfassenden Ausmass implementiert. Die Reduktion oder gar Elimination von Zwangsmassnahmen ist ein zentrales Element dieser Ansätze. Die drei Referierenden nehmen diese Thema in ihren Teilbeiträgen auf.
Matthias Jäger berichtet aus der institutionellen Perspektive und zeigt einen Überblick zu Konzepten zur Reduktion von Zwangsmassnahmen und extrapoliert Konsequenzen und Grenzen einer Abschaffung von Zwangsmassnahmen.
Andreas Ineichen und Chris Zeltner werden dann aus der Betroffenenperspeltive im Reflecting Team Dialog auf Chancen, Stolpersteine des Gehörten hinweisen.
Sektorenübergreifende integrative Versorgungskonzepte
Nicolay Marstrander, Fürstenfeldbruck (Germany)
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Autor:in:
Nicolay Marstrander, Fürstenfeldbruck (Germany)
Ausgangslage:
Die zunehmend kürzere Verweildauer im stationären Bereich zwingt den psychisch erkrankten Patienten zu häufigen Wechseln zwischen den Behandlungssektoren. Die Beziehungskontinuität als Qualitätsmerkmal in der Behandlung schwerer psychischer Störungen ist aber unbestritten. In der Realversorgung gestaltet sich die Informationsübergabe und die Sicherstellung einer Behandlungskontinuität daher häufig schwierig. Dies für zu Frustrationen sowohl auf Seiten der Patienten und Angehörigen als auch bei den Behandelnden.
Projekt:
Im Rahmen einer Dezentralisierung der Patientenversorgung im Großraum München wurde 2016 die neue kbo-Vollversorgungsklinik in Fürstenfeldbruck bei München eröffnet. Die Klinik versorgt mit 88 vollstationäre Betten, zwei Tageskliniken und zwei Institutsambulanzen etwa 350 Ts. Einwohner (zwei Landkreise).
In der Grundkonzeption der Klinik wurden die Organisationsstrukturen konsequent patientenorientiert umgesetzt. Es wurden vier unterschiedliche, störungsorientierte Behandlungseinheiten mit multiprofessionellen Behandlungsteams definiert. Die Behandlungsteams werden jeweils von einer dualen Leitung (Oberarzt/Stationsleitung) geführt und sind sektorübergreifend für die Behandlung einer definierten Patientengruppe zuständig. Die Behandlung wird je nach Bedarf vollstationär, teilstationär, intensiv-ambulant oder aufsuchende zuhause (Hometreatment) durchgeführt.
Effekt:
Die Umstellung der Organisation zugunsten von sektorübergreifender Beziehungskontinuität führt zu einer höheren Zufriedenheit bei Patienten, Angehörigen und Therapeuten. Es stellt aber die Organisation vor erheblichen Herausforderungen.
Multiprofessionalität als Grundlage einer guten Behandlung – das Beispiel des Weddinger Modells
Ina Jarchov-Jádi, Berlin (Germany)
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Autor:in:
Ina Jarchov-Jádi, Berlin (Germany)
In wieweit in möglichst kurzer Zeit, effizient und nachhaltig optimale Behandlungsergebnisse erzielt werden können, hängt im wesentlich von der Qualität der interprofessionellen Zusammenarbeit und dem Grad der Einbeziehung der Patienten*innen mit ihrem sozialen Umfeld in die Behandlungsplanung ab Tatsächlich aber bestätigen aktuelle Studien deutschen Krankenhäuser erhebliche Kommunikationsmängel im interprofessionellen wie patientenbezogenen Austausch. Am Beispiel des Weddinger Modell soll veranschaulicht werden, wie eine flexible individuelle bedürfnisausgerichtete Therapie auf der Grundlage konsequent interprofessioneller Zusammenarbeit und Patientenorientierung im klinischen Alltag inhaltlich wie strukturell umgesetzt werden kann.