Die Psychiatrieenquete wird als eine der nachhaltigsten und erfolgreichsten Sozialreformen der letzten Jahrzehnte in Deutschland gesehen. Dennoch sind einige wesentliche Forderungen nicht umgesetzt worden bzw. müssen aktuell Tendenzen ausgemacht werden, die den ursprünglichen Reformgedanken entgegenstehen. Pragmatisch und orientiert an Mindeststandards für die psychiatrische Versorgung schwer psychisch erkrankter Menschen haben Ingmar Steinhart und Günther Wienberg 2016 ein Modell vorgelegt, welches sich an wesentlichen (psychiatrisch-psychotherapeutisch fokussierten) Funktionen orientiert, die in allen Versorgungsregionen sichergestellt werden müssen. In jüngster Zeit werden daran orientiert, im Wesentlichen modellhaft und mit Pilotcharakter Versorgungsstrukturen hinterfragt, analysiert und neu definiert. Einige innovative Prozesse aus unterschiedlichen Regionen und Settings in Deutschland werden vor- und zur (kritischen) Diskussion gestellt.
Mindeststandards psychiatrischer Versorgung für schwer psychisch erkrankte Menschen: Update des Funktionalen Basismodells
Ingmar Steinhart, Bielefeld (Germany)
Details anzeigen
Autor:in:
Ingmar Steinhart, Bielefeld (Germany)
Viele Strukturprobleme in der psychiatrischen Hilfelandschaft sind seit der Psychiatrie – Enquete ungelöst und insbesondere für schwer psychisch kranke fehlt seit langem eine grundlegende Neuausrichtung mit einem richtungsweisenden Zukunftsmodell. Um diese Probleme zu überwinden wurde von Steinhart und Wienberg bereits 2014 ein funktionales Modell zur Beschreibung eines Mindeststandards für die gemeindepsychiatrische Versorgung schwer psychisch kranker Menschen vorgeschlagen.
Zusammenfassend kennzeichnen folgende Merkmale dieses Funktionale Basismodell:
• es wurde entwickelt auf Basis der S3-Leitlinie Psychosoziale Versorgung und erfolgreich arbeitenden Modellen in Deutschland.
• es beschreibt die für eine bedarfsgerechte Versorgung notwendigen Unterstützungsfunktionen in den Bereichen Behandlung und Teilhabe.
• es ist sektor- und sozialgesetzbuchübergreifend
• es definiert die notwendigen Funktionen unabhängig von der institutionell-organisatorischen Ausformung und Finanzierung.
• es denkt konsequent von der ambulanten Seite her, von hier aus wird die Versorgung geplant, gesteuert und umgesetzt.
• es definiert damit einen Mindeststandard für die Versorgung von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen.
• es ist Sozialraum- und Recovery-orientiert ausgerichtet.
• es versteht sich in doppelter Hinsicht als offenes Entwicklungsmodell: offen für neue wissenschaftliche Erkenntnisse und Praxiserfahrungen und offen im Hinblick auf die regionale institutionelle Umsetzung.
Kern dieses Modells ist, dass es einerseits zur Beschreibung und Analyse der Versorgungsstrukturen in einer Region genutzt werden kann und andererseits Grundlagen schafft zur Weiterentwicklung von regionalen Strukturen. Auf Basis der neueren gesetzlichen Entwicklungen im SGB V und SGB IX wurde das Modell überarbeitet und im Vortrag wird die aktuelle Version 3.0 vorgestellt.
Praktische Umsetzung des Funktionalen Basismodells in einer großen süddeutschen Versorgungsregion
Raoul Borbé, Ravensburg (Germany)
Details anzeigen
Autor:in:
Raoul Borbé, Ravensburg (Germany)
Das funktionale Basismodell nach Steinhart und Wienberg ist ein neuer Ansatz einer personenzentrierten Beschreibung des Versorgungssystems, jenseits struktureller, fiskaler und lokaler Besonderheiten. Die aufgerufenen Funktionen können als Blaupause für ein ideales Versorgungssystem verstanden werden. Funktionen, die lokal nicht vorhanden sind, die keine finanzierte Regelleistung darstellen und die strukturell z.B. in einem Landespsychiatrieplan nicht gefordert werden, stellen eine Einschränkung der Wahlfreiheit mit Blick auf Behandlung und Teilhabe dar.
Leistungserbringer sind im Sinne ihrer Patientinnen und Patienten daher gefordert, diese Einschränkungen abzubauen. Durch das BTHG entsteht diesbezüglich auch ein vermehrter Druck auf Leistungs-, d.h. Kostenträger, die ihrerseits nun zentrale Verantwortung in der Teilhabeplanung übernehmen müssen.
Das ZfP Südwürttemberg hat die Förderung einer integrativen Gemeindepsychiatrie seit Jahren schon in der Unternehmensstrategie niedergelegt. Dazu gehört das aktive Engagement der einzelnen Standorte in Gemeindepsychiatrischen Verbünden. Mittlerweile gilt das Basismodell von Steinhart und Wienberg hier als Goldstandard für eine funktionierende, personenzentrierte Gemeindepsychiatrie. Die konkrete Umsetzung soll in dem Vortrag erläutert werden.
LeiPnetz – Leipziger Psychiatrie Netzwerk – ein Pilotprojekt zur Umsetzung des Funktionalen Basismodells: erste Erfahrungen und Forschungsergebnisse
Katarina Stengler, Leipzig (Germany)
Details anzeigen
Autor:innen:
Katarina Stengler, Leipzig (Germany)
Justus Schwedhelm, Leipzig (Germany)
Thomas Seyde, Leipzig (Germany)
Ines Conrad, Leipzig (Germany)
Steffi G. Riedel-Heller, Leipzig (Germany)
Maria Koschig, Leipzig (Germany)
Die psychiatrische Behandlung von Menschen mit schweren psychischen Störungen ist in Deutschland fast automatisch mit einer Krankenhausbehandlung verbunden. Obgleich international evidenzbasierte alternative und gemeindepsychiatrisch-ambulante Modelle auch für die Akut- und Intensivbehandlung existieren, sind diese in der Versorgung in Deutschland bislang nicht angekommen. Die aktuellen Entwicklungen hinterfragen die etablierte psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung in Deutschland und verweisen auf Handlungsrelevanz, insbesondere in den gemeindepsychiatrisch angesiedelten Systemen der Bereiche Wohnen, Arbeiten und soziale Teilhabe. An diesem Punkt einer notwendigen Neuausrichtung vorhandener psychiatrisch-psychotherapeutischer Angebote mit Fokus auf eine verstärkte ambulante Ausrichtung des zukünftigen Systems setzt das vorliegende Pilotprojekt an: in der prosperierenden Großstadt Leipzig wurden Art und Umfang der durch verschiedene Anbieter, Träger, Einrichtungen und Akteure in einer definierten psychiatrischen Pflichtversorgungsregion umgesetzten Angebote analysiert und den Funktionen des Basismodells nach Steinhart und Wienberg (2017) zugeordnet. Durch enge Vernetzung mit den angesprochen Versorgungsakteuren standen neben der Vorgabe einer handlungsfähigen Projektstruktur vor allem nachhaltige Netzwerkbildung und Gemeindeverankerung des Projekts im Mittelpunkt der Bemühungen. Im Rahmen eines partizipativ angelegten Forschungsdesigns wurden quantitative und qualitative Forschungsinstrumente eingesetzt. Erste Ergebnisse können referiert und diskutiert werden. Zudem soll die Perspektive dieses in der Pilotphase sehr erfolgreichen gemeindepsychiatrischen Projekts vor allem im Hinblick auf seinen Transfer in andere Versorgungsregionen diskutiert und ggf. Kooperationen diesbezüglich angeregt werden.