Der Anteil schwer psychisch erkrankter Menschen wird auf 1% bis 2% der Erwachsenen zwischen dem 18. und 65. Lebensjahr geschätzt (Gühne et al. 2015). In Deutschland wären somit ca. 500.000 bis zu 1 Million Menschen in diesem Alterssegment schwer psychisch erkrankt. Die Mehrheit dieser Personengruppe wird ambulant behandelt, viele von ihnen erhalten aber darüber hinaus eine Vielzahl weiterer Leistungen aus allen sozialrechtlichen Leistungsbereichen (Behandlung, Rehabilitation, Pflege, Eingliederungshilfe usw.).
Die regionalen Versorgungssysteme sind mit der Aufgabe einer SGB-übergreifenden Kooperation und Vernetzung überfordert. Die Folgen sind Über- und Unterversorgung und insbesondere gehäufte, bei optimaler ambulanter erhalten Versorgung unnötige Klinikbehandlungen.
Mit dem vom Innovationsfonds der Krankenkassen geförderten Modellvorhaben „GBV – Gemeindepsychiatrische Basisversorgung schwerer psychischer Erkrankungen“ (Laufzeit 2019 – 2023) wird in zwölf Regionen eine verbundförmige ambulant-aufsuchende Komplexversorgung über alle sozialrechtlichen Sparten hinweg erprobt und mit einer randomisierten multizentrischen Kontrollstudie evaluiert. Primäre Zielkriterien sind ein signifikant stärkerer Empowerment-Effekt, eine höhere Lebensqualität und Zufriedenheit von Patienten und Angehörigen und eine verbesserte Kosten-Effekt-Relation der eingesetzten Ressourcen.
In dem Symposium werden die Grundlagen und die Anwendungsrelevanz des „Funktionalen Basismodells gemeindepsychiatrischer Versorgung“ (Steinhart), seine Umsetzung im Rahmen des GBV-Modellvorhabens und dessen Evaluation (Greve), die Mitwirkung von Genesungsbegleitern bei der Umsetzung (Jahnke) sowie eine Einschätzung zur Relevanz aus Sicht der Angehörigen (Zechert) dargestellt.
Das Funktionale Basismodell gemeindepsychiatrischer Versorgung
Ingmar Steinhart, Bielefeld (Germany)
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Ingmar Steinhart, Bielefeld (Germany)
Das von Steinhart und Wienberg seit 2014 weiterentwickelte funktionale Modell zur Beschreibung eines Mindeststandards für die gemeindepsychiatrische Versorgung schwer psychisch kranker Menschen wird im Symposium als Ausgangsposition für die Weiterentwicklung einer ambulant orientierten Gemeindepsychiatrie in seiner neuesten Version 3.0 vorgestellt.
Das Funktionale Basismodell:
• wurde entwickelt auf Basis der S3-Leitlinie Psychosoziale Versorgung und erfolgreich arbeitenden Modellen in Deutschland.
• beschreibt die für eine bedarfsgerechte Versorgung notwendigen Unterstützungsfunktionen in den Bereichen Behandlung und Teilhabe.
• ist sektor- und sozialgesetzbuchübergreifend
• definiert die notwendigen Funktionen unabhängig von der institutionell-organisatorischen Ausformung und Finanzierung.
• denkt konsequent von der ambulanten Seite her, von hier aus wird die Versorgung geplant, gesteuert und umgesetzt.
• definiert damit einen Mindeststandard für die Versorgung von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen.
• bietet eine Grundlage zur Analyse und Weiterentwicklung von regionalen Strukturen
• ist Sozialraum- und Recovery-orientiert ausgerichtet.
• versteht sich in doppelter Hinsicht als offenes Entwicklungsmodell: offen für neue wissenschaftliche Erkenntnisse und Praxiserfahrungen und offen im Hinblick auf die regionale institutionelle Umsetzung.
Das Modell in seiner neuesten aktuellen Version 3.0 wird in den Zusammenhang innovativer Vorhaben der Gemeindepsychiatrie mit ambulantem Schwerpunkt gestellt.
Die Gemeindepsychiatrische Basisversorgung (GBV) schwerer psychischer Erkrankungen in der Umsetzung
Nils Greve, Köln (Germany)
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Nils Greve, Köln (Germany)
Das Projekt "GBV - Gemeindepsychiatrische Basisversorgung schwerer psychischer Erkrankungen" wird vom Innovationsfonds im Themenfeld "Sozialleistungsträgerübergreifende Versorgungsfomrn" gefördert. Neben dem Dachverband Gemeindepsychiatrie (Konsortialführer) beteiligen sich die Techniker Krankenkasse, die AOK Rheinland/Hamburg, die AOK Bayern, die KKH, 15 Betriebskrankenkassen über ihre Managementgesellschaft GWQ, die Universität Ulm sowie Leistungserbringer aus 12 Versorgungsregionen, darunter neben gemeindepsychiatrischen Trägern 6 Versorgungskliniken.
Gegenstand des Projekts sind ein Erst-Assessment zur Identifikation von Personen mit schweren psychischen Erkrankungen, eine verbindliche SGB-übergreifende Vernetzung aller im Einzelfall beteiligten Institutionen, eine kontinuierliche Bezugsbegleitung ("Fallmanagement"), dislogisch-systemische Netzwerkgespräche mit allen Mitgliedern der privaten und professionellen sozialen Systeme der Teilnehmer*innen sowie ein vierstufiger 24/7-Krisendienst.
Die Evaluation erfolgt mit Primär- und Sekundärdaten im Rahmen einer RCT-Studie (N = 2 x 500) durch die Universität Ulm (R. Kilian und Team). Laufzeit des Projekts ist der Zeitraum von Juli 2019 bis Juni 2023.
Der Projektleiter stellt in seinem Beitrag das Projekt vor und bewertet es hinsichtlich seiner politischen Relevanz.