Die Stärkung der Patientenselbstbestimmung durch den Einsatz von Vorausverfügungen, z.B. Patientenverfügungen oder Behandlungsvereinbarungen, wird von vielen unterschiedlichen Akteuren regelmäßig gefordert. Auf der anderen Seite berichten Kliniker, dass es im klinischen Alltag trotz hohen Engagements eher selten zum Abschluss einer Vorausverfügung kommt und dass bisweilen erst in der Folge einer Vorausverfügung eine schwierige ethische Konfliktsituation in der psychiatrischen Praxis entsteht.
Das geplante interdisziplinäre Symposium verfolgt das Ziel, durch aktuelle Beiträge aus der Medizinethik und der psychiatrischen Versorgungsforschung Hindernisse für die Implementierung von Vorausverfügungen zu identifizieren und Lösungsansätze zu entwickeln. Aus medizinethischer Perspektive werden zum einen Herausforderungen durch die UN-Behindertenrechtskonvention diskutiert, zum anderen wird mit sog. Odysseus-Verfügungen ein innovativer Typ von Vorausverfügungen vorgestellt und im Kontext internationaler Erfahrungen analysiert. Aus der Sicht der psychiatrischen Versorgungsforschung werden in zwei empirischen Beiträgen vorläufige Ergebnisse einer multizentrischen Studie zu Behandlungsvereinbarungen bei Menschen mit Schizophrenie vorgestellt.
Welchen Stellenwert haben psychiatrische Vorausverfügungen vor dem Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention?
Matthé Scholten, Bochum (Germany)
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Autor:innen:
Matthé Scholten, Bochum (Germany)
Astrid Gieselmann, Bochum (Germany)
Jakov Gather, Bochum (Germany)
Jochen Vollmann, Bochum (Germany)
Psychiatrische Vorausverfügungen sind Dokumente, in denen einwilligungsfähige psychiatrische Patienten für den zukünftigen Fall ihrer Einwilligungsunfähigkeit schriftlich festlegen können, in welche Behandlungen sie einwilligen und welche Behandlungen sie ablehnen. Viele Staaten mit gesetzlichen Regelungen für Patientenverfügungen, so auch Deutschland, haben das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) ratifiziert. Wichtige UN-Gremien bewerten Patientenverfügungen in der Psychiatrie sehr positiv. In dem Vortrag soll jedoch gezeigt werden, dass eine maßgebliche Auslegung der UN-BRK, nämlich diejenige des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die Wirksamkeit von Patientenverfügungen in typischen psychiatrischen Krisensituationen untergräbt. Dagegen wird argumentiert, dass aus einem flexibleren UN-BRK-Modell sinnvollere Empfehlungen für die Umsetzung von Patientenverfügungen in der klinischen Praxis abgeleitet werden können. Abschließend werden Bedenken hinsichtlich der Verantwortung von Personen, die im konkreten Anwendungsfall Entscheidungsassistenz leisten und der Patientenverfügung Ausdruck und Geltung verschaffen sollen, in den Blick genommen. Es wird ein Modell vorgestellt, das Entscheidungsassistenz mit der Prüfung von Einwilligungsfähigkeit kombiniert, und aus unserer Sicht in der Lage ist, diese Bedenken zu entkräften.
Überblick über die erste randomisierte multizentrische Studie zu Behandlungsvereinbarungen in Deutschland
Martin Driessen, Bielefeld (Germany)
Jacqueline Rixe, Bielefeld (Germany)
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Autor:innen:
Martin Driessen, Bielefeld (Germany)
Jacqueline Rixe, Bielefeld (Germany)
Bisher existieren keine methodisch anspruchsvollen Studien, die die Wirksamkeit von Behandlungsvereinbarungen in Deutschland überprüfen, obwohl diese bereits im PsychKG z.B. in NRW) verankert sind. Angesichts hoher Zahlen von Unterbringungen gerade psychotisch Kranker ist dies eine relevante Lücke. Daher wurde von den Psychiatrischen Kliniken der Universität Bochum und des Ev. Klinikums Bethel, Bielefeld eine multizentrische randomisiert kontrollierte Studie entwickelt, an der auch die Klinken in Neuss, Bonn (LVR) Projekt und Marsberg in NRW beteiligt sind. Das Vorhaben wird aus Mitteln des Landes NRW gefördert.
Primäres Ziel des Projektes ist die Evaluation von Behandlungsvereinbarungen (BV), einem partizipativen Aushandlungsprozess incl. schriftlicher Vereinbarung mit stationär behandelten psychotisch Kranken über die Bedingungen künftiger Aufnahmen und Behandlungen im Rahmen einer integrierten Behandlungsplanung. Diese BVs werden nach oder kurz vor der Entlassung aus einer stationären Behandlung abgeschlossen und mit der Aushändigung eines einfachen Krisenpasses verglichen.
Die Haupthypothese lautet: BVs führen im Katamnesezeitraum über 18 Monate verglichen mit dem Krisenpass zu einer geringeren kumulativen stationären Behandlungsdauer insgesamt (= primäres Outcomemaß 1) sowie zu weniger Zwangsmaßnahmen (gesetzliche Unterbringung, Fixierung, Zwangsmedikation) (= primäres Outcomemaß 2).
Eingeschlossen werden Patienten zwischen 18 und 60 Jahren mit den Hauptdiagnosen Schizophrene oder schizoaffektive Störung. Geplant ist ein Stichprobenumfamg von je 130 Patienten in beiden Interventionsgruppen.
Das Assessment erfolgt mit einer umfangreichen Auswahl von Instrumenten, die mehrere Domänen abdecken.
Aktuell Stand: Die Rekrutierung und Untersuchungen zum Zeitpunkt t1 sind abgeschlossen.
Odysseus-Verfügungen in der Psychiatrie – ethisches Konzept und Erfahrungen aus verschiedenen europäischen Ländern
Astrid Gieselmann, Bochum (Germany)
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Autor:innen:
Astrid Gieselmann, Bochum (Germany)
Matthé Scholten, Bochum (Germany)
Jakov Gather, Bochum (Germany)
Jochen Vollmann, Bochum (Germany)
Patientenverfügungen und Behandlungsvereinbarungen werden seit längerem als eine Möglichkeit zur Stärkung der Patientenselbstbestimmung in der Psychiatrie angesehen und zunehmend auch in der Praxis eingesetzt. Eine spezielle, bislang im deutschsprachigen Raum vergleichsweise selten diskutierte Art von Vorausverfügung stellt die sog. „Odysseus-Verfügung“ oder „self-binding directive“ dar. Das Besondere an dieser Verfügung ist, dass Betroffene darin für bestimmte zukünftige Situationen im Voraus selbst bestimmen können, wann sie ein Eingreifen anderer Personen in ihr Handeln wünschen. Derartige Odysseus-Verfügungen könnten insbesondere für Menschen mit bipolaren Störungen relevant sein, da sich Betroffene in manischen Episoden manchmal Entscheidungen treffen, die sie in stabileren Phasen so nicht hätten treffen wollen.
In unserem Vortrag möchten wir zunächst darlegen, inwiefern Odysseus-Verfügungen zu einer Schadensbegrenzung in manischen Episoden beitragen und gleichzeitig eine Möglichkeit darstellen könnten, den selbstbestimmten Patientenwillen in Phasen der Einwilligungsunfähigkeit zu respektieren. Danach wenden wir uns Einwänden gegen Odysseus-Verfügungen zu. Ethische Einwände betreffen beispielsweise die Frage, wie mit dem Konflikt zwischen vorausverfügtem und natürlichem Willen bei Einwilligungsunfähigkeit umzugehen ist, der sich bei Odysseus-Verfügungen in besonderer Weise stellt. Aus rechtlicher Sicht wird unter anderem eingewendet, dass ungeklärt sei, ob der Widerruf einer Patientenverfügung bei Einwilligungsunfähigkeit ausgeschlossen ist, und dass eine eingeforderte Maßnahme gegen den natürlichen Willen aus rechtlicher Sicht weiterhin eine Zwangsmaßnahme darstellt.
Abschließend werden wir argumentieren, dass die Anwendung und Verbindlichkeit von Odysseus-Verfügungen trotz der genannten Einwände für Patienten mit bipolaren Störungen sinnvoll ist, und dabei auf Erfahrungen aus anderen europäischen Ländern wie den Niederlanden oder Großbritannien Bezug nehmen.