Somatische Komplikationen von Zwangsmaßnahmen - Ergebnisse eines systematischen Reviews
Xenia A. K. Kersting, Bonn (Germany)
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Autor:innen:
Xenia A. K. Kersting, Bonn (Germany)
Tilman Steinert, Ulm (Germany)
Einführung
Zwangsmaßnahmen werden bei psychiatrischen Patienten seit Jahrhunderten angewandt. Dass sie zu Schäden führen können, ist fast ebenso lange bekannt. Dramatische Einzelfallberichte finden sich vorwiegend in der rechtsmedizinischen Literatur und in der Presse. Dennoch gab es bislang keine systematische Übersichtsarbeit über körperliche Komplikationen von Zwangsmaßnahmen.
Methode
Anhand einer systematischen Literaturrecherche wurden die Datenbanken PubMed und CINAHL nach Primärliteratur zu körperlichen Komplikationen unter den Maßnahmen Fixierung, Isolierung, Festhalten und Zwangsmedikation durchsucht.
Ergebnisse
67 Studien (hauptsächlich Fallserien und Einzelfallberichte, nur zwei RCTs mit kleiner Fallzahl und an Gesunden durchgeführt) erfüllten die Einschlusskriterien. Als häufigster Schaden wurde der Tod genannt, v.a. Herzstillstand durch Thoraxkompression oder Strangulation und Tod durch Lungenembolie. Venöse Thromboembolien traten z.T. trotz Prophylaxe in einem erheblichen Prozentsatz der Fälle mechanischer Fixierung auf.
Verletzungen bei Festhalten wurden in 0,8 - 4 % der Fälle berichtet. Für andere Arten von Zwangsmaßnahmen gibt es keine ausreichenden Daten, um Häufigkeiten prozentual zu benennen. Die am häufigsten berichtete Maßnahme war die Fixierung durch Fixiersysteme, gefolgt von Festhalten, Bettgitter, Fixierweste und Stuhlfixierung. Zwangsmedikation wurde nur in zwei Fällen explizit erwähnt, spielte aber vermutlich in neun Studien eine Rolle. Sechs Studien berichteten über Isolierung.
Schlussfolgerung
Obwohl Zwangsmaßnahmen zu körperlichen Schäden und sogar zum Tod führen können, besteht ein erheblicher Datenmangel zur Häufigkeit und Kausalität von Schäden. Das weitgehende Fehlen jeglicher Literatur zu Schäden, die während Isolierungen auftreten, lässt einen Publication Bias mit Underreporting vermuten. Weitere Forschung ist erforderlich, um Schadenmechanismen besser zu verstehen und die Durchführung der Maßnahmen sicherer zu gestalten.
Beeinflussen die Einstellungen von psychiatrischen Professionellen zu Zwang die klinische Entscheidungsfindung?
Simone Agnes Efkemann, Bochum (Germany)
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Autor:innen:
Simone Agnes Efkemann, Bochum (Germany)
Jakov Gather, Bochum (Germany)
Georg Juckel, Bochum (Germany)
Hintergrund. Trotz gesetzlicher Vorgaben verfügen psychiatrische Professionelle über einen Entscheidungsspielraum bei der Anwendung von Zwangsmaßnahmen. Bisher ist wenig über den Prozess dieser Entscheidungsfindung bekannt. Es gibt jedoch einige Hinweise, dass individuelle Faktoren wie Persönlichkeitseigenschaften und Einstellungen diese Entscheidung in spezifischen Situationen beeinflussen können.
Methodik. Eine deutsche Version der „Staff Attitudes towards Coercion Scale“ (SACS) wurde bereits validiert. Diese soll genutzt werden, um den Einfluss der Einstellungen auf die Anwendung von Zwang zu untersuchen. Hierbei werden Fallvignetten genutzt, bei denen die psychiatrischen Professionellen eine Entscheidung für oder gegen die Anwendung von Zwang treffen sollen. Neben der SACS werden weitere Persönlichkeitseigenschaften (Big Five, Wahrnehmung von Aggression, Bedürfnis nach kognitiver Geschlossenheit, Risikobereitschaft) erhoben.
Ergebnisse. Die durchgeführte Faktorenanalyse (n =106) konnte die drei ursprünglichen Faktoren der SACS (pragmatisch, kritisch, befürwortend) nicht nachweisen. Stattdessen ergab die Auswertung ein 2-Faktoren-Modell: der erste Faktor besteht aus den Items der ursprünglichen Skala „kritisch“, der zweite Faktor ist eine Kombination aus den beiden anderen Skalen. Beide Faktoren erreichten eine hohe Reliabilität mit Cronbach’s α = 0.783 für den ersten und α = 0.817 für den zweiten Faktor.
Diskussion. Die deutsche Version der SACS kann genutzt werden, um Einstellungen von psychiatrischen Professionellen zur Anwendung von Zwang zu erheben. Dabei ist jedoch eine deutlichere Trennung zwischen positiven und negativen Einstellungen zu beobachten. Für weitere Studien stellt sich die Frage, ob sich psychiatrische Professionelle mit unterschiedlichen Einstellungen auch in der Anwendung von Zwang unterscheiden. Dies könnte zu einem besseren Verständnis des Entscheidungsprozesses und im weiteren Verlauf zu einer Reduktion von Zwang führen.
Relevanz der psychiatrischen Versorgung zum präventiven Menschenrechtsschutz – Praxiserfahrungen aus der österreichischen Monitoringtätigkeit
Arkadiusz Komorowski, Wien (Austria)
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Autor:innen:
Arkadiusz Komorowski, Wien (Austria)
Marisa Silbernagl, Wien (Austria)
Gabriele Fischer, Wien (Austria)
Auf Basis vom UN-Fakultativprotokoll zum Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe sowie des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen findet in der Republik Österreich ein präventives Menschenrechtsmonitoring in Einrichtungen statt, in denen es zur Einschränkung der persönlichen Freiheit kommen kann oder wenn unmittelbare Befehl- und Zwangsgewalt ausgeübt wird, etwa bei Polizeieinsätzen. Wir berichten hier über die Tätigkeit der Kommission 3 (Zuständigkeit: Steiermark & Kärnten, ca. 1/3 vom Bundesgebiet).
Daten von 29 besuchten Polizeiinspektionen (seit 2017) sowie 26 Pflegeheimen (seit 2018) mit dem Schwerpunkt der psychiatrischen Versorgung wurden analysiert. Einerseits, da Anhaltungen von Personen mit psychischen Erkrankungen und zwangsweise Einlieferungen an psychiatrische Abteilungen einen wesentlichen Alltag von Polizeibeamt_innen darstellen, anderseits da in Pflegeheimen häufig medikamentöse Freiheitsbeschränkungen zur Anwendung kommen.
Defizite wurden v.a. bei Einsätzen nach dem Unterbringungsgesetz deutlich. Im Zeitraum von 12 Monaten kam es pro Polizeiinspektion zu durchschnittlich 30,4 Einlieferungen an psychiatrische Abteilungen; vereinzelt bis zu 113 Einsätze pro Jahr. Kritisch erschien, dass in 79,3 % der Polizeiinspektionen keine Fach- oder Amtsärzt_innen zur zeitnahen fachlichen Begutachtung erreichbar waren und Fahrten sich oft über Stunden erstreckten, da keine psychiatrische Versorgung im Nahebereich zum Wohnort bestand. Deutlich wurde auch ein unzureichendes Supervisionsangebot, welches in 96,5 % der Dienststellen, trotz belastender Vorfälle, nicht in Anspruch genommen wurde.
In Pflegeheimen wurde das Problemfeld ungemeldeter Freiheitsbeschränkungen untersucht, insbesondere von medikamentösen Maßnahmen, die in 68,2 % der besuchten Einrichtungen festgestellt wurden, z.T. bei mangelhafter Meldungsstruktur an Kontrollorgane aufgrund defizitärer Betreuungsressourcen.
An die ermordeten Opfer der NS-Psychiatrie erinnern – Gründe, Formen, Ziele
Thomas Müller, Ravensburg (Germany)
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Autor:in:
Thomas Müller, Ravensburg (Germany)
Objective:
This presentation is to give a very short overview on the history of Psychiatry during National Socialism in Germany and to then shed light on the reasons why this history needs to be addressed, how this can be done, and where we should aim at in respect to teaching its contents and setting into process an adequate culture of memory in German medicine today and beyond.
Method:
A variety of projects conducted by the presenting person will be portrayed by focusing on the history of the Wuerttemberg clinics of Weissenau and Zwiefalten in the time span under scrutiny, including plain historical research, presenting the results of this research to academia as to the public by means of museum exhibitions and in seminars with medical students, high school pupils and others.
Results:
The historical study of Nazi Germany’s psychiatry as e.g. its “euthanasia program” is of eminent importance to both German Medicine today as to the German public. By researching National Socialist psychiatry and its history, by publishing its results, integrating those into education of various professional groups, by enhancing museum exhibitions and establishing the “Monument of the Grey Buses” the named clinics set a whole program of initiatives and therefore formed new pathways in addressing this part of history, to successfully transmit related knowledge to both academia and the public and thus contribute to ethical conduct in medicine.
Der gesellschaftliche Wandel – wer versorgt unsere erkrankten Familienmitglieder in 10 Jahren?
Wiebke Schubert, Ratingen (Germany)
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Autor:in:
Wiebke Schubert, Ratingen (Germany)
Bis vor 10 Jahren wurden 60% der psychisch kranken Menschen durch ihre Angehörigen versorgt. Innerhalb von 10 Jahren ist diese Anzahl auf 50 % gesunken und wird weiter rapide sinken. Hinzu kommt der Pflegenotstand generell. Dadurch verschärft sich die Situation erheblich. Professionelle Anbieter reagieren auf den Rückzug der Familien bisher nicht. Es droht eine erhebliche Versorgungslücke.
Wie soll dann die Versorgung psychisch schwer kranker und beeinträchtigter Menschen gelingen? Droht ihnen vermehrt Obdachlosigkeit, Unterbringung in Alten- und Pflegeheimen oder anderen wenig geeigneten Einrichtungen oder sind neue Formen der Versorgung denkbar?
Wenn ja, welche sind das und wie sehen sie aus?
Hier sehen wir Diskussions- und Handlungsbedarf.
Klinische Ethikberatung – Gemeinsamkeiten und Unterschiede von forensischer Psychiatrie und Allgemeinpsychiatrie
Irina Franke, Cazis (Switzerland)
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Autor:innen:
Irina Franke, Cazis (Switzerland)
Oskar Speiser, Günzburg (Germany)
Manuela Dudeck, Günzburg (Germany)
Judith Streb, Günzburg (Germany)
Forensisch-psychiatrisch tätige Fachpersonen sind mit komplexen ethischen Fragestellungen konfrontiert. Über die Inanspruchnahme klinischer Ethikberatung zur Unterstützung bei diesen Fragestellungen ist wenig bekannt. Eine Analyse der gegenwärtigen Strukturen kann dazu beitragen, den Ist-Zustand und den Bedarf im Bereich klinischer Ethik in der forensischen Psychiatrie zu definieren. Für diese Studie wurden alle allgemeinpsychiatrischen und forensisch-psychiatrischen Kliniken in Deutschland befragt. Ziel der Studie war es, Daten zur Verfügbarkeit und Aufbau von klinischen Ethikstrukturen zu erheben und das Angebot bzw. den Bedarf in Allgemeinpsychiatrie und forensischer Psychiatrie miteinander zu vergleichen.
Fast 75% aller allgemeinpsychiatrischen Kliniken gaben an, Zugang zu klinischer Ethikberatung zu haben. Im Gegensatz dazu berichteten nur 43% aller forensisch-psychiatrischen Kliniken und nur 25% der Kliniken, die abhängigkeitserkrankte Straftäter behandeln, über ein entsprechendes Angebot. Der Großteil vorhandener Ethikberatungsstrukturen war interdisziplinär zusammengesetzt. Die meisten Anfragen bezogen sich auf retro- und prospektive Fallberatungen, Beratungen im Zusammenhang mit Entlassungen und Beendigung der Behandlung, Zwangsmaßnahmen und Patientenverfügungen. 71% der Kliniken ohne Zugang zu Ethikberatung formulierten weiteren Ausbildungsbedarf in klinischer Ethik.
Die Ergebnisse zeigen, dass klinische Ethikberatung in der Allgemeinpsychiatrie etwas besser etabliert ist als in forensischen-psychiatrischen Kliniken. Die in der forensischen Psychiatrie tätigen Fachpersonen formulierten einen höheren Bedarf für Ethikberatung. Zudem zeigte sich eine Diskrepanz in der Verfügbarkeit von klinischer Ethikberatung abhängig von der Unterbringungsgrundlage hin, wobei das Angebot in Kliniken, die nur Behandlungen nach §64 StGB durchführen, geringer war.