Autor:innen:
PD Dr. med. Michael A. Überall | Institut für Neurowissenschaften, Algesiologie & Pädiatrie | Germany
Dr. med. Thomas Nolte | ZAPV Zentrum für ambulante Palliativversorgung GmbH | Germany
Harry Kletzko | IMC - Integrative Managed Care GmbH | Germany
Dr. Gerhard Müller-Schwefe | Schmerz- und Palliativzentrum Göppingen | Germany
Hintergrund:
Rückenschmerzen entwickeln sich seit Jahren nicht nur zu einem der häufigsten, sondern auch zu einem der sich am hartnäckigsten den verschiedenen Ansätzen von Prävention, Kuration und Rehabilitation wiedersetzenden Gesundheitsproblemen der westlichen Welt. In Deutschland gehören Operationen an der Wirbelsäule mit einer 10-Jahreszuwachsrate von bundesweit 71% und 772.000 Eingriffen alleine im Jahr 2017 zu den häufigsten operativen Verfahren überhaupt, obwohl der Individualnutzen dieser gesundheitsökonomisch extrem teuren Verfahren zur Linderung chronischer Rückenschmerzen mehr als umstritten ist.
Methodik:
Seit 2010 bietet die Integrative Managed Care (IMC) GmbH im Auftrag mehrerer gesetzlicher Krankenversicherungen an bei Versicherten mit Rückenschmerzen, bei denen der operative Eingriff bereits terminiert ist, OP-Indikation und konservative Therapiealternativen im Rahmen eines Zweitmeinungsverfahrens entsprechend § 140 a SGB V zu überprüfen. Betroffene erhalten nach Vorlage ihrer Krankenhauseinweisung binnen 7 Werktagen einen Termin zur individuellen/persönlichen Evaluation in Form einer interdisziplinären Schmerzkonferenz in einem der bundesweit 38 regionalen IMC-Zentren.
Ergebnisse:
Bis zum 31.03.2019 wurden bei 3.824 Patienten (54,6% Frauen; Alter 54,1±14,6 Jahre; Erkrankungsdauer 1075,0±1269,2 Tage; MPSS Grad 1/2/3: 31,6/48,3/20,1%; von Korff Typ 1/2 vs. 3/4: 27,0 vs. 73,0%; FFbHR: 61,6±22,5; Schmerzindex: 46,5±18,1 mm VAS; mPDI: 51,2±21,6 mm VAS; VR12-PS/MS: 32,1±8,7/45,7±11,9; D/A/S: 6,6±4,4/5,8±4,0/7,3±4,8) mit Rückenschmerzen die OP-Indikationen überprüft und nur in 296 Fällen (7,7%) bestätigt. Bei 44,9% der Fälle (n=1717) wurde alternativ eine besondere Versorgung im Rahmen eines ambulanten multimodalen Intensivprogrammes (entweder vollzeitig für 3 Wochen oder berufsbegleitend für 3 Monate) empfohlen und bei 47,4% (n=1811) die Fortführung der Behandlung im Rahmen der Regelversorgung als ausreichend angesehen. Mit Ablehnungsquoten zwischen 29,4-100,0% zeigten sich große regionale Unterschiede zwischen den Bundesländern: am seltensten wurde die OP-Indikation in Niedersachsen (0,0%), Hamburg (3,8%), Hessen (4,4%), Berlin (6,4%) und Sachsen (9,3%) bestätigt, am häufigsten in Sachsen-Anhalt (70,6%), gefolgt von Thüringen (25,9%), Mecklenburg-Vorpommern (22,2%) und Bayern (19,8%). Post-Hoc-Analysen der beteiligten Versicherungen bestätigten für neun von zehn Fälle, dass die Absage der bereits terminierten Operationen im Rahmen des Zweitmeinungsverfahrens endgültig war und die OP nicht im zeitlichen Verlauf nachgeholt wurde.
Schlussfolgerungen:
Die Indikation zur operativen Intervention bei Rückenschmerzen sollte kritisch hinterfragt und die Einholung einer Zweitmeinung durch ein in der schmerzmedizinischen Versorgung Betroffener erfahrenes, interdisziplinär besetztes Team konservativ tätiger Schmerzspezialisten gesetzlich verpflichtende Voraussetzung jeglicher elektiven Rückenoperation werden.