Hintergrund
Einige neue Verfahren in der Medizin versprechen einen besseren Outcome, gehen jedoch häufig mit höheren Behandlungskosten einher. Die Nachweisführung des Zusatznutzens erfolgt meist mit randomisiert-kontrollierten Studien (RCT) als Goldstandard, welche aufwändig sind und kaum den ökonomischen Nutzen betrachten. Sicherheit und Wirksamkeit werden eher in Studien untersucht, welchen ein prospektiver Kontrollarm fehlt.
Ein Lösungsweg aus diesem Innovationsdilemma kann das Matching von einer bestehenden „single-arm“-Studie mit Versichertendaten unter Verwendung eines Propensity-Score-Matchings sein. Mit diesem neuen Ansatz können statistische Zwillinge aus verschiedenen Datenquellen ermittelt werden, um ökonomische Einschätzungen treffen zu können. Aktuelles Beispiel ist die Studie der inspiring-health GmbH mit der Gesundheitsforen Leipzig GmbH, welche ein neues Verfahren zur Anlage eines Dialyseshunts auf seine ökonomischen Vorteile gegenüber der herkömmlichen Therapie hin untersucht.
Fragestellung
Die Studienlage der endovaskulären Arterio-Venösen-Fistel (endoAVF) zeigt eine hohe primäre Erfolgsrate bei geringen Folgekomplikationen. Ist diese auch eine wirtschaftlichere Alternative gegenüber der herkömmlichen chirurgischen Shunt-Anlage (chir. AVF)? Daten zur klinischen Wirksamkeit und Sicherheit der endoAVF liegen aus dem „Novel Endovascular Access Trial“ (NEAT) vor. Hierbei wurden 60 Patienten mit endoAVF behandelt und 1 Jahr nachverfolgt. Deren Ergebnisse sollen nun für Deutschland anhand von Sekundärdaten aus der Analysedatenbank der Gesundheitsforen Leipzig evaluiert werden. Diese beruhte zum Zeitpunkt der Durchführung auf einem repräsentativen Datenbestand von über 1,5 Mio. GKV-Versicherten verschiedener Kassen. Endpunkte der Analyse sind Häufigkeit und Kosten postoperativer Ereignisse sowie Gesamtkosten der Patienten in einem Jahr. Darüber hinaus soll die Zeit bis zum ersten postoperativen Ereignis für die beiden Verfahren verglichen werden.
Methode
Die Studiendaten der NEAT-Population wurden zunächst in ICD-10- GM, DRG- bzw. OPS-Codes übersetzt. Darauf basierend wurden n=290 volljährige Versicherte mit chir. AVF und Dialyse innerhalb eines Nachbeobachtungsjahres aus der Analysedatenbank der Gesundheitsforen Leipzig ermittelt. Mit Hilfe eines Propensity Scores wurde jedem der 60 Probanden aus der NEAT-Studie ein statistischer Zwilling aus der Grundpopulation der Analysedatenbank zugeordnet (1:1-Matching ohne Zurücklegen). Matchingkriterien waren verschiedene Patientencharakteristika mit Fokus auf Risikofaktoren, die bei einem Individuum die Expositionswahrscheinlichkeit für ein postoperatives Ereignis beeinflussen (Confounder).
Ergebnisse
Es erfolgte ein Outcomevergleich postoperativer Komplikationen zwischen NEAT und Vergleichsgruppe. Es zeigte sich eine signifikant höhere Anzahl postoperativer Komplikationen für Patienten mit chir. AVF bei Infektionen durch Katheter (pFDR < 0,05), Revisionen (pFDR < 0,01) und der Gesamtanzahl postoperativer Komplikationen (Fälle, pFDR < 0,001), wobei der pFDR-Wert einen für multiples Testen mittels Benjamini-Hochberg-Methode korrigierten Signifikanzwert darstellt.
Der Kostenvergleich bestätigte zunächst signifikant höhere Kosten des Ersteingriffs bei endoAVF gegenüber chir. AVF (Median 7.278 € vs. 3.303 € mit pFDR < 0,001), aber zeigte signifikant niedrigere Kosten für postoperative Komplikationen im ersten Jahr nach Behandlung (Median 0€ vs. 3.148 € mit pFDR < 0,01). In Summe ergab sich kein signifikanter Gesamtkostenunterschied zwischen endoAVF und chir. AVF (Median 6.709 € vs. 7.325 €).
Der Vergleich der Dauer bis zum Eintreten des ersten postoperativen Ereignisses zeigte, dass bei Patienten mit endoAVF postoperative Ereignisse signifikant später eintreten (Mittelwert 257,9 Tage (endoAVF) vs. 146,7 Tage (chir. AVF)).
Diskussion
Das neue Verfahren endoAVF weist im deutschen Versorgungssystem nur halb so viele Komplikationen wie chir. AVF auf. Die Behandlung von Komplikationen ist in der chir. AVF Gruppe signifikant teurer. Insgesamt gibt es keinen signifikanten Kostenunterschied zwischen beiden Methoden, sodass man mit endoAVF zu gleichen ökonomischen Bedingungen geringere Komplikationsraten und Patientensicherheit zu verzeichnen hat.
praktische Implikationen
Das Verfahren der Datenvergleiche mittels „statistischer Zwillinge“ aus Kassendaten ist geeignet, um klinische und ökonomische Evaluationen neuer Verfahren durchzuführen. Die Versichertendaten bilden einen Kontrollarm zu Studiendaten in Anlehnung an ein RCT und Confounder lassen sich durch das aufwändige Propensity-Score Matching-entsprechend kontrollieren. Die Methode stellt eine solide Möglichkeit dar, um bei ähnlichem Versorgungskontext der Studien- und Versichertendaten auch die Wirtschaftlichkeit neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden zu bewerten, wobei zunächst immer eine medizinische Bewertung erfolgen sollte.
Hintergrund / Fragestellung
Um die Routinedaten der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) für die Forschung im Bereich der Notfallversorgung zu nutzen, ist die Abgrenzung zwischen den Notfallbehandlungen in Krankenhäusern und denen der vertragsärztlichen Notfallversorgung unerlässlich. Die hierzu notwendige Identifikation der Notaufnahmen erfordert ein differenziertes Vorgehen und kann nur indirekt erfolgen, da eine eindeutige Kennzeichnung der Notaufnahmen in den Routinedaten nicht vorliegt. Im vorliegenden Beitrag wird die Entwicklung und externe Validierung eines Algorithmus beschrieben, der die Notaufnahmen der Krankenhäuser in den Routinedaten der Kassenärztlichen Vereinigungen identifiziert.
Methode
Zuerst wurden Betriebsstätten (BS_NR ) identifiziert, die in 2016 Notfallbehandlungen durchgeführt haben. Ausgeschlossen wurden alle Praxen, deren Praxistyp und weitere Merkmale auf eine ambulante vertragsärztliche Praxis hinweisen. Weiterhin wurden alle Betriebsstätten ausgeschlossen, die nicht in allen vier Quartalen Notfallbehandlungen abgerechnet haben, da dieses Kriterium i.d.R. auf eine Notaufnahme schließen lässt.
Diese Annahmen schließen nicht aus, dass KV-Notdienstpraxen in den vorselektierten Daten enthalten sind. Zur genaueren Abgrenzung wurden weitere Kriterien wie die Honoraranforderung der Praxen (an die KVen) für Notfallbehandlungen und der prozentuale Anteil der an Wochentagen tagsüber (zu Sprechstundenzeiten) durchgeführten Notfallbehandlungen berücksichtigt. Ein sehr geringer prozentualer Anteil der zu Sprechstundenzeiten durchgeführten Notfallbehandlungen ist ein Indiz für eine KV-Notdienstpraxis, während ein hoher Anteil auf eine Notaufnahme schließen lässt.
Zur Validierung des Algorithmus wurden Daten aus Notfallbehandlungen verwendet, die dem Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung (Zi) im Jahr 2017 von 14 Kassenärztlichen Vereinigungen zur Verfügung gestellt wurden (dargestellt im Zi-Paper 11/2017, v. Stillfried et al.). Aus diesen Daten konnte die Anzahl der Notaufnahmen im ersten Halbjahr 2016 pro KV berechnet werden. Mit diesen Referenzdaten wurde der Anteil der durch den Algorithmus identifizierten Notaufnahmen untersucht.
Ergebnisse
Mit dem Algorithmus konnten mehr als 1200 Notaufnahmen identifiziert werden. Der Algorithmus kann die von den KVen für das Zi-Paper bereitgestellten Daten, über die erfassten Notaufnahmen der Krankenhäuser aus dem Jahr 2016, weitgehend reproduzieren. Bezogen auf die Datengrundlage des Zi-Papers konnten durchschnittlich mehr als 98 % dieser Notaufnahmen pro KV identifiziert werden.
Diskussion / praktische Implikation
In den Routinedaten der KVen fehlt eine eindeutige Kennzeichnung der Notaufnahmen. Der entwickelte Algorithmus führt zu plausiblen Ergebnissen bei der Identifikation von wahrscheinlichen Notaufnahmen. Limitationen bestehen durch die heterogene Notfallversorgung in Deutschland, die in den Routinedaten der KVen abgebildet wird. Sie beinhalten sowohl Notfallbehandlungen aus Notaufnahmen der Krankenhäuser als auch aus KV-Notdiensten. Letztere werden in Arztpraxen, durch Fahrdienste der Kassenärztlichen Vereinigungen, in KV-Notfallpraxen und in Portalpraxen durchgeführt, die regional zu unterschiedlichen Zeiten erreichbar sind. Der entwickelte Algorithmus ist daher flexibel und berücksichtigt veränderte Rahmenbedingungen sowie die heterogene Struktur der Notfallversorgung in Gänze.
v. Stillfried D., Czihal T., Erhart M., „Rolle der Krankenhäuser in der Notfallversorgung in Deutschland:
Daten belegen massiven Reformbedarf“, Zi-Paper 2017
online zuletzt abgerufen am 05.04.2019 unter: https:/www.zi.de/fileadmin/images/content/Publikationen/Zi-Paper_11-2017_Notfallversorgung.pdf
Das INDEED-Projekt wird gefördert durch den Innovationsfonds / Versorgungsforschung
Hintergrund und Fragestellung: Die aktuelle Neustrukturierung von Notaufnahmen erfordert sowohl eine Standardisierung in Bezug auf die Erfassung der Prozess- und Strukturqualität als auch deren Evaluation. Hierdurch könnte die Versorgung der stetig zunehmenden Anzahl an Patienten in Notaufnahmen optimiert werden. Gerade die Evaluation des Einflusses von verschiedenen zur Diskussion stehenden Qualitätsindikatoren (QIs) auf die Ergebnisqualität erfolgte bislang nur unzureichend.
Im Projekt ENQuIRE – „Evaluierung der Qualitätsindikatoren von Notaufnahmen auf Outcome-Relevanz für den Patienten“ (Innovationsfonds, Förderkennzeichen: 01VSF17005) wird die Abbildung realer sektorenübergreifender Versorgungsprozesse im Setting Notaufnahme und der sich anschließenden Versorgung angestrebt. Damit werden zugleich die Behandlungsergebnisse widergespiegelt. Mit Hilfe der hierbei gewonnenen Transparenz soll die Outcome-bezogene Evaluation von verschiedenen Qualitätsindikatoren ermöglicht werden.
Methode: Es erfolgt eine Erhebung von Daten aus 15 deutschen Notaufnahmen beginnend mit der standardisierten Erfassung eines Vorstellungsgrundes (CEDIS-Katalog). Hinzu kommen Daten aus der weiteren Behandlung in der Notaufnahme (Datensatz Notaufnahme der DIVI e.V.) und der sich eventuell anschließenden stationären Versorgung. Abrechnungsdaten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) liefern Informationen zur Inanspruchnahme ambulanter und stationärer Leistungen nach Entlassung. Ergänzend werden in einer stichprobenhaften Patientenbefragung Angaben zur Lebensqualität und Zufriedenheit mit dem Behandlungsergebnis erhoben. Abschließend ist ein Linkage aller erhobenen Primär- und Sekundärdaten geplant. Daten zur Inanspruchnahme gesundheitlicher Versorgung aus der Zeit vor der Notaufnahmebehandlung ermöglichen zusätzlich eine Risikoadjustierung. Weiterhin ermöglichen Strukturdaten der Kliniken eine organisationsbezogene Betrachtung der Ergebnisse.
Ergebnisse: Das Datenlinkage auf individueller Ebene soll die reale Versorgung von Notaufnahmepatienten unter Berücksichtigung vorab ausgewählter Outcome-bezogener Qualitätsindikatoren abbilden. Durch die Einbeziehung von GKV-Daten der folgenden 12 Monate nach Notaufnahmekontakt können die jeweiligen Behandlungsergebnisse sichtbar gemacht und bei verschiedenen Versorgungsabläufen gegenübergestellt werden.
Die Evaluation der Qualitätsindikatoren kann durch die Verlinkung der verschiedenen Datenquellen neben den Zielgrößen Mortalität und Morbidität, wie beispielsweise das Auftreten von Folgeerkrankungen, auch auf die spezifische Inanspruchnahme anschließender ambulanter und stationärer Angebote der Gesundheitsversorgung oder auf die Dauer der Arbeitsunfähigkeit fokussieren. Dies bietet einen Einblick in das längerfristige Behandlungsergebnis.
Diskussion: Der Entwicklung von QIs in der Notfallversorgung mangelt es häufig an Evidenz oder Nähe zu den realen Versorgungsprozessen in deutschen Notaufnahmen (1, 2). Nachweise einer Relevanz von bestimmten Qualitätsindikatoren für ein entsprechendes Behandlungsergebnis gibt es kaum. Das Potenzial von Abbildungen verschiedener Behandlungsprozesse anhand standardisiert erhobener Routinedaten (Vorstellungsgrund und weitere Daten des Datensatzes Notaufnahme) aus der realen Notfallversorgung zusammen mit den sektorenübergreifenden Daten aus sich jeweils anschließenden Versorgungsverläufen (GKV-Daten) und Primärdaten (patient-reported Outcomes; PROs) wird anhand der bisherigen Erfahrungen aus dem Projekt ENQuIRE diskutiert. Erste Erfahrungen zur Datenerhebung können eingebracht werden.
Praktische Implikationen: Die methodischen Hürden, welche sich im Setting Notaufnahme an der Schnittstelle zwischen verschiedenen Versorgungssektoren ergeben, könnten mit dem im Projekt ENQuIRE geplanten Datenlinkage überwunden werden. Dadurch wird die Evaluation von Qualitätsindikatoren ermöglicht, wozu auch die Präzisierung einzelner Qualitätsindikatoren gehört. So kann ein ausgewogenes und insbesondere praxistaugliches Set von QIs erstellt und konsentiert werden, ohne für die Notaufnahmen einen zusätzlichen Dokumentationsaufwand zu verursachen. Dieses Set von QIs könnte wiederum zur Evaluation bestehender und Entwicklung neuer Versorgungspfade genutzt werden.
Literatur:
1. Credé SH, O'Keeffe C, Mason S, Sutton A, Howe E, Croft SJ et al. What is the evidence for the management of patients along the pathway from the emergency department to acute admission to reduce unplanned attendance and admission? An evidence synthesis. BMC Health Serv Res 2017; 17(1):355.
2. El Baz N, Middel B, van Dijk JP, Oosterhof A, Boonstra PW, Reijneveld SA. Are the outcomes of clinical pathways evidence-based? A critical appraisal of clinical pathway evaluation research. J Eval Clin Pract 2007; 13(6):920–9.
Hintergrund
Eine sekundäre Datenauswertung unterstützt den Erkenntnisgewinn einer Primärstudie, die ein telemedizinisches Nachsorgeprogramm evaluiert. Die klinische Evaluationsstudie untersucht die Wirkung eines Nachsorgeprogramms zur Rückfallprävention nach einer psychiatrischen Rehabilitation anhand von Symptombelastung, Lebensqualität, beruflicher Wiedereingliederung, Krankschreibungszeiten und stationären Aufenthaltsdaten. Die Sekundärstudie prüft anhand von Daten aus der Leistungsfinanzierung in österreichischen Krankenanstalten die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf die Gesamtbevölkerung in Österreich und bietet anhand der gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen Einblicke in das Nutzenpotenzial von Routinedaten.
Methode
Zur Evaluation einer web-basierten Rehabilitationsnachsorge (W-RENA) für die Stabilisierung des Rehabilitationserfolgs wurde eine kontrollierte zweiarmige prospektive Interventionsstudie (Interventionsgruppe n=63, Kontrollgruppe n=38) durchgeführt. Die Studienergebnisse der W-RENA wurden nach einer Machbarkeitsprüfung mit einer Sekundärdatenanalyse (n=4.187) verschränkt und ausgewertet.
Ergebnisse
Die Wiederaufnahmerate bei stationären psychiatrischen Krankenhausaufenthalten war im 1-Jahres-Follow-up in der Interventionsgruppe geringer als in der Kontrollgruppe. Diese Ergebnisse konnten anhand einer aus Routinedaten abgeleiteten Kontrollgruppe verifiziert werden. Zusätzlich erfolgten Subgruppenanalysen nach Geschlecht, Alter und Region.
Diskussion
Die Studie zeigt, dass aus Routinedaten einzelne klinische Endpunkte ableitbar sind, und damit die Bildung einer externen Kontrollgruppe möglich ist. Der externe Studienarm ermöglicht, eine klinische Primärstudie zu erweitern. Die Routinedaten liefern weite Anhaltspunkte für den Effekt der Gesundheitsmaßnahme, sowie für die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf die Gesamtbevölkerung. Weiterführende Analysen sind allerdings durch datenschutzrechtliche, methodische und technische Herausforderungen eingeschränkt.
Praktische Implikationen
Die Machbarkeitsanalyse hat gezeigt, dass für eine möglichst breite Nutzung von Routinedaten - beispielsweise im Dilemma zwischen individuellen Interessen (Schutz personenbezogener Daten) und Gemeinwohlinteressen (Versorgungs- und Gesundheitssystemforschung) – tragfähige Lösungen gefordert sind. Diese müssten allerdings von allen Beteiligten mitgetragen werden: Gesundheitspolitik, Patient(inn)envertreter, Gesundheitsdienstanbieter, softwareproduzierende Industrie, Kostenträgern, Kammern und Krankenkassen.
In Deutschland sind Beispiele für eine Förderung der sekundären Nutzung von Routinedaten bekannt, etwa das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) 2015 initiierte Förderkonzept Medizininformatik um Daten zu vernetzen und die Gesundheitsversorgung zu verbessern sowie die erste Ausschreibung des Innovationsfonds 2016 mit ihrem Fokus auf den Einsatz und die Verknüpfung von Routinedaten zur Verbesserung der Versorgung.
Auch in Österreich liegt mit der neuen Verordnung zur Dokumentation im ambulanten Bereich eine Datengrundlage vor, mit der zukünftige Analysen verbessert werden können. Um den Zugang zu Daten in Österreich zu erleichtern und datenschutz- und nutzungsrechtlichen Anforderungen leichter erfüllen zu können, bedarf es - im Gegensatz zu aufwendigen ad hoc Genehmigungen für Routinedatenauswertungen – einen vereinfachten Zugang, wie die Etablierung von Forschungsdatenplattformen, dezidierte Regeln bzw. einen definierten Genehmigungsprozess für Routinedatenauswertungen. Auch wenn Routinedaten prinzipiell verfügbar sind, kann der potenzielle Erkenntnisgewinn für Wirksamkeitsevaluationen durch den historischen Charakter der Routinedaten unzureichend sein. Daher empfiehlt sich vor angedachten Sekundärdatenauswertungen und Ansätzen zum Datenlinkage eine Prüfung der prinzipiellen Machbarkeit und die sorgfältige Abwägung von Aufwand und Nutzen.
Hintergrund
Für die Surveillance der psychischen Gesundheit in der Bevölkerung sind aussagekräftige Kennwerte notwendig. Wenn die Häufigkeit psychischer Störungen auf Basis von Primärdaten aus Bevölkerungssurveys und auf Basis von Sekundärdaten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ermittelt wird, zeigen sich jedoch wesentliche Diskrepanzen. Dies ist für Depression bereits gut belegt. Für Angststörungen existiert eine systematische Gegenüberstellung von Survey- und GKV-Routinedaten aus Deutschland bisher nicht. Ergebnisse zur Übereinstimmung bzw. spezifischen Aussagekraft beider Datenquellen können dazu beitragen, eine geeignete Evidenzbasis für Prävention und Versorgung auszuwählen.
Fragestellung
Wie unterscheidet sich die Häufigkeit von Angststörungen bei Schätzung auf Basis verschiedener etablierter Indikatoren aus Survey- und GKV-Routinedaten?
Methode
Drei Indikatoren werden für das Jahr 2010 gegenübergestellt: In dem bevölkerungsrepräsentativen Befragungs- und Untersuchungsurvey „Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland“ (DEGS1) wurden 1) selbstberichtete ärztliche Diagnosen von Angststörungen erfragt (n=6.838) sowie 2) im Zusatz-Modul Mental Health (DEGS1-MH) Diagnosen mittels standardisiertem klinischen Interview (Composite International Diagnostic Interview, CIDI) gestellt (n=4.332). In Routinedaten einer gesetzlichen Krankenkasse (BARMER) wurden 3) administrativ erfasste Diagnosen von Angststörungen ermittelt (n=6.472.488), die bei mindestens zwei Behandlungsfällen im Jahr 2010 (M2Q) dokumentiert wurden. 12-Monats-Prävalenzen werden gewichtet und nach Alter, Geschlecht und Bundesland stratifiziert dargestellt. In zwei Sensitivitätsanalysen wurden 1) privat versicherte Surveyteilnehmende ausgeschlossen und wurde 2) das Aufgreifkriterium der administrativen Diagnose variiert durch zusätzliche Betrachtung von nur einmalig in 2010 (M1Q) kodierten Diagnosen.
Ergebnisse
In der Altersgruppe der 20- bis 79-Jährigen variiert die 12-Monats-Prävalenz für Angststörungen je nach betrachteter Datenbasis. Im Jahr 2010 erfüllen 16,4% (95%-KI: 14,7-18,1%) der Studienteilnehmenden die Kriterien einer Angststörung gemäß CIDI-Interview. Dagegen berichten nur 3,1% (95%-KI: 2,4-3,7%), dass sie eine ärztliche Angststörungsdiagnose in der Versorgung erhalten haben. Mit 1,8% (95%-KI: 1,8-1,8%) fällt die Häufigkeit kodierter Diagnosen von Angststörungen in GKV-Routinedaten am geringsten aus.
Im Altersverlauf bleibt die Häufigkeit von Angststörungen nach CIDI-Diagnose von 20 bis 59 Jahre konstant und fällt danach ab. Dagegen steigt die GKV-Diagnose bis zur Altersgruppe 50 bis 59 Jahre stetig an, sinkt jedoch gleichermaßen ab 60 Jahren. Die selbstberichte ärztliche Diagnose schwankt stärker und liegt in der Altersgruppe von 50 bis 59 Jahren am höchsten.
Während Angststörungen in der Versorgung (GKV-Diagnose und selbstberichtete ärztliche Diagnose) in den neuen Bundesländern signifikant seltener kodiert werden sowie in Berlin am höchsten liegen, bestehen in der standardisiert erfassten Diagnose im CIDI-Interview keine regionalen Unterschiede.
Werden nur GKV-versicherte Survey-Teilnehmende betrachtet, steigt die Häufigkeit von Angststörungen gemäß CIDI-Diagnose auf 17,6%.
Bei Berücksichtigung von administrativen Diagnosen von Angststörungen, die im Jahr 2010 nur einmalig dokumentiert wurden (M1Q) liegt deren Prävalenz 1,5 mal so hoch wie die der zumindest zweimalig kodierten Störungen (M2Q).
Diskussion
Die Häufigkeit von Angststörungen in der Bevölkerung gemäß CIDI-Interview liegt mehr als neun Mal so hoch wie in GKV-Routinedaten. Ein Teil dieser Diskrepanz ist vermutlich dadurch begründet, dass nicht alle Personen auch Behandlungsbedarf erleben, die im Survey die diagnostischen Kriterien einer Angststörung erfüllen (insbesondere bei spezifischen Phobien). Das hohe Maß der Abweichung bleibt aber erklärungsbedürftig und reflektiert zugleich eine ungünstige Versorgungslage von Angststörungen durch möglicherweise fehlendes Hilfesuchverhalten, mangelnde Sensitivität v.a. der primärärztlichen Diagnostik und eine geringe Behandlungsrate. Auf Optimierungsbedarfe in der Arzt-Patienten-Kommunikation deutet der Befund hin, dass Surveyteilnehmende mehr ärztliche Diagnosen von Angststörungen berichten, als in GKV-Routinedaten tatsächlich dokumentiert sind.
Praktische Implikationen
Auf Basis vergleichbarer Erfahrungen wird z.B. in Kanada eine kombinierte Surveillance von affektiven Störungen und Angststörungen in Sekundärdaten vorgeschlagen. Für Deutschland ist zu bilanzieren, dass sich GKV-Routinedaten nicht eignen, um die Häufigkeit von Angststörungen in der Bevölkerung abzubilden, für die Beschreibung der Versorgungslage aber unerlässlich sind.
Hintergrund:
Tumorerkrankungen zählen zu den häufigsten Todesursachen in der Bundesrepublik Deutschland. Durch das In-Kraft-Treten des „Krebsfrüherkennungs- und -registergesetz“ (KFRG) am 09.04.2013 (teilweise auch eher) wurde der Grundstein für eine breitflächige Erfassung und Meldung klinischer Kranken- und Verlaufsdaten von an Krebs erkrankten Patienten gelegt. Durch Verwendung dieser Informationen, sowie mit Hilfe zusätzlicher Daten innerhalb interoperabler Kooperationsprojekte können medizinisch-relevante Fragestellungen mit dem Ziel einer besseren Patientenversorgung beantwortet werden.
Methodik:
Im Rahmen des vom Innovationsfond geförderten Projektes „Wirksamkeit der Versorgung in onkologischen Zentren“ (WiZen) sollen Daten klinischer Krebsregister (Dresden, Erfurt, Regensburg, Berlin-Brandenburg) mit bundesweiten Krankenkassendaten von AOK-versicherten Patienten zusammengeführt und ausgewertet werden. Aufgrund datenschutzrechtlicher Vorgaben ist eine Verwendung von Daten im Klartextformat nicht möglich. Aus diesem Grund werden verschiedene Ansätze zur Etablierung eines deterministischen und probabilistischen Datenlinkages untersucht. Ziel des deterministischen Datenlinkages wird die eindeutige Verknüpfung von Informationen eines anonymen Patienten aus verschiedenen Informationsquellen sein. Grundlage des probabilistischen Datenlinkages bilden mehrere Linkage-Variablen (z.B. Alter, Geschlecht, Herkunft), die aufgrund ihrer Kombination eine möglichst eindeutige Verlinkung der Informationen eines Patienten aus verschiedenen Quellen ermöglicht. Vorgesehen ist die Automatisierung der jeweiligen Prozesse.
Ergebnisse:
Bis zur Einreichung des Abstracts lagen die Daten zur Evaluation der entwickelten Methoden noch nicht vor. Nach der Datenlieferung durch die Krebsregister wird die Effizienz verschiedener Varianten des deterministischen und probabilistischen Datenlinkages dargestellt. Zu erwarten ist, dass aufgrund der teils heterogenen Datenstrukturen ein deterministisches Datenlinkage schwerer zu realisieren sein wird als ein probabilistisches, dieses andererseits aber auch eine aussagekräftigere Verlinkung ermöglicht.
Diskussion:
Durch die Verwendung interoperabler Datenschnittstellen in der Medizin können die Stärken zweier verschiedener Datenbestände genutzt und zur Beantwortung medizinisch-relevanter Fragestellungen verwendet werden. Das im WiZen-Projekt entworfene Datenlinkage soll einen Beitrag zur Nutzung klinischer Krebsregisterdaten leisten. Hierbei müssen allerdings mögliche Fehlzuordnungen im Falle von probabilistischen Linkage-Methoden, sowie das Vorhandensein von teils kleinen Fallzahlen berücksichtigt werden.