Die organisatorischen Grundlagen für die Versorgung im Sinne von strukturellen Rahmenbedingungen, umschriebenen Angeboten sowie therapeutischer Werte und Grundhaltungen bilden die Basis jeglichen psychiatrischen Handelns und prägen die konkreten therapeutischen Interaktionen und den grundsätzlichen Umgang mit Menschen mit psychischen Erkrankungen in der Gesellschaft. Die Beschreibung, Entwicklung und Evaluation der Versorgungsorganisation ist daher ein zentraler Bestandteil der psychiatrischen Praxis und Forschung. In diesem Symposium werden verschiedene Aspekte der aktuellen Versorgungsentwicklung in der Schweiz dargestellt und diskutiert. Der erste Beitrag beleuchtet den Zusammenhang mit gesellschaftlichen Entwicklungen und der Epidemiologie psychischer Erkrankungen. Der zweite Beitrag beschäftigt sich mit der Definition von Versorgungsregionen als Grundlage für die Beschreibung der Versorgungsorganisation und Inanspruchnahme psychiatrischer Leistungen. Im dritten Beitrag werden die jüngere Versorgungsentwicklung sowie die derzeit und zukünftig prägenden Paradigmen skizziert. In vierten Beitrag wird das integrierte Versorgungssystem des Tessins und dessen Auswirkungen auf die Anwendung von Zwang präsentiert.
08:30 Uhr
Warum verändert sich die Prävalenz psychischer Erkrankungen nicht? Gesellschaftlicher Wandel und psychische Gesundheit
Dirk Richter, Bern (Switzerland)
Details anzeigen
Autor:in:
Dirk Richter, Bern (Switzerland)
Sowohl in der Versorgungslandschaft als auch in der epidemiologischen Forschung ging man lange Zeit von einer Zunahme der Prävalenz psychischer Störungen aus. In den letzten Jahren jedoch mehren sich die Einzelstudien, Übersichtsarbeiten und Meta-Studien, die diese Annahme nicht bestätigen. Zumeist wird in den Studien keine Veränderung der Prävalenzen berichtet, in manchen sogar ein Rückgang (Daten stammen aus der Zeit vor der Covid-19-Pandemie). Warum dies der Fall ist, darüber wird in der Fachwelt gerätselt, insbesondere auch weil die Inanspruchnahme der psychiatrischen Versorgung deutlich zugenommen hat. Der Beitrag stellt verschiedene Hypothesen vor und diskutiert diese vor dem Hintergrund der Datenlage.
08:40 Uhr
Evidenzbasierte Definition von Versorgungsregionen als Voraussetzung für Analysen der Versorgungssituation
Urs Hepp, Winterthur (Switzerland)
Details anzeigen
Autor:in:
Urs Hepp, Winterthur (Switzerland)
Die psychiatrische Versorgungssituation in der Schweiz divergiert regional stark und der Grad der stationären und ambulanten Versorgung variiert erheblich. Für die stationäre Versorgung gibt es klare Hinweise auf eine angebotsinduzierte Inanspruchnahme. Die ambulante Versorgung ist wesentlich unübersichtlicher. Es gibt einerseits Hinweise auf eine Überversorgung (hohe Bettendichte, hohe «Psychiaterdichte») und gleichzeitig Hinweise auf Versorgungslücken (Patienten mit Behandlungsbedarf werden nicht behandelt), was den Schluss einer Fehlversorgung nahelegt.
Die Autoren stellen einen neuen Zugang zur Definition von psychiatrischen Versorgungsregionen dar. Es geht darum, einen «Versorgungsatlas» zu entwickeln, indem Versorgungsregionen auf der Basis von Inanspruchnahmedaten definiert und voneinander abgegrenzt werden. Diese Versorgungsregionen können als Grundlage für weitere Analysen dienen, die wiederum für die Angebotsplanung relevant sind.
08:50 Uhr
Förderung von Inklusion und Autonomie – Zukunftsperspektiven für die Versorgungsorganisation
Matthias Jäger, Liestal (Switzerland)
Details anzeigen
Autor:in:
Matthias Jäger, Liestal (Switzerland)
Die psychiatrische Versorgung in der Schweiz ist auch 35 Jahre nach Beginn der Dehospitalisierungsbewegung noch stark dominiert von der stationären Behandlung in den grossen Institutionen. Seit den Psychiatriereformen ab Mitte der 1970er Jahre rückten jedoch neue Paradigmen in den Vordergrund der psychiatrischen Versorgungsplanung. Insbesondere das Credo „ambulant vor intermediär vor stationär“ sowie der Ansatz der integrierten settingsübergreifenden Versorgung sind in diesem Zusammenhang auch heute noch prägend. So wurden seit den 1980er Jahren gemeindenahe Angebote in Form von Ambulatorien und Tageskliniken sowie komplementäre Bereiche zur Arbeits-, Wohn- und sozialen Reintegration aufgebaut. Erst seit wenigen Jahren entstehen zudem mobile aufsuchende Behandlungsangebote in Ergänzung oder als Ersatz zu den etablierten Settings. Eng verknüpft mit dieser Entwicklung müssen die neuere Paradigmen für die Behandlung von und den Umgang mit psychisch beeinträchtigten Personen betrachtet werden. Prominente Beispiele hierfür sind die gesellschaftliche Inklusion sowie die Förderung und Erhaltung der Freiheit der Person, welche beide durch die Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen stark gefördert und für die zukünftige Weiterentwicklung der psychiatrischen Versorgung eine noch grössere Rolle spielen werden. Dieser Beitrag skizziert die jüngere psychiatrische Versorgungsentwicklung und extrapoliert zukünftige Entwicklungsperspektiven vor diesem Hintergrund.