Psychiatrie und Gesellschaft befinden sich in einer unauflöslichen, aber auch sehr störbaren wechselseitigen Abhängigkeit. Psychiatrische und gesellschaftliche Aspekte stellen nicht selten verschiedene Seiten ein und desselben Themas dar. Psychische Erkrankungen bedeuten regelhaft für die betroffenen Menschen auch eine Veränderung in der Teilhabe am Leben – dies wiederum kann zu einer Verschlechterung der Erkrankung und/oder zu einer Beeinträchtigung der Gesundung führen. Das Bild von Menschen mit psychischen Erkrankungen ist in der Öffentlichkeit auch heute noch geprägt von Vorurteilen, von Stigmatisierung und zeitweise auch von Diskriminierung. Das psychiatrische Fachgebiet wird nicht selten für gesellschaftliche Fragestellungen funktionalisiert, zeitweise instrumentalisiert und gegebenenfalls auch missbraucht. Dieses Symposium stellt die Breite der Thematik dar und versucht, Maßnahmen zur Stabilisierung des fragilen Gleichgewichts zwischen Psychiatrie und Gesellschaft aufzuzeigen.
17:30 Uhr
Psychiatrie und Gesellschaft – ein fragiles Gleichgewicht
Arno Deister, Itzehoe (Germany)
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Autor:in:
Arno Deister, Itzehoe (Germany)
Zwischen Psychiatrie und Gesellschaft gibt es eine Vielzahl von relevanten Wechselwirkungen. Es geht um Spannungsfelder auf verschiedenen Ebenen – zwischen ethischem Anspruch und ökonomischer Realität, zwischen dem Schutz der Autonomie des Menschen und dem Recht auf Schutz, zwischen therapeutischer Haltung und der Forderung nach Sicherheit, zwischen schwerer psychischer Krankheit und kriminellem und terroristischem Verhalten, zwischen der Forderung nach Inklusion und der alltäglichen Stigmatisierung und tiefgreifenden Diskriminierung. Und dabei sind die jeweiligen Seiten nie eindeutig der Psychiatrie einerseits oder der Gesellschaft andererseits zuzurechnen. Die Grenzen sind fließend und die Übergänge oft nicht wirklich bemerkbar. Die Erwartungen der Gesellschaft – und damit auch der Gesundheitspolitik – an das psychiatrisch-psychotherapeutische Hilfesystem sind umfassend, vielfältig und oft auch widersprüchlich. Personen, die in Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik arbeiten und dafür Verantwortung tragen, sehen sich mit deutlich komplexeren gesellschaftlichen Herausforderungen konfrontiert als dies für die entsprechenden Tätigkeiten in einem Fach der somatischen Medizin gilt. Die komplexe ordnungspolitische Funktion, die von der Psychiatrie und Psychotherapie erwartet wird, verstärkt diese Herausforderungen noch deutlich. Die oft nur gering ausgeprägte gesellschaftliche Wertschätzung für die „sprechende Medizin“ tut ein Übriges. Es erscheint dringend erforderlich, diesen fragilen Bereich zu diskutieren.
17:45 Uhr
Die ordnungspolitische Funktion der Psychiatrie
Tilman Steinert, Ravensburg (Germany)
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Tilman Steinert, Ravensburg (Germany)
Die Doppelfunktion der Psychiatrie - heilen und helfen einerseits, hoheitliche Aufgaben bis hin zur Anwendung von Zwang andererseits - wird in jüngster Zeit vermehrt in Frage gestellt. Faktisch und de jure besteht diese Doppelfunktion, von der Forensischen Psychiatrie bis hin zu den Unterbringungsgesetzen. Damit wird der Psychiatrie eine Ordnungsfunktion bei Situationen der Selbst- und vor allem Fremdgefährdung zugewiesen. Dennoch stellt sich die Frage, ob der Staat hier der Psychiatrie Aufgaben zuweist, die ihr als medizinischer Disziplin eigentlich wesensfremd sind oder ob diese Doppelfunktion auch eine medizinethische Rechtfertigung aus den Besonderheiten der Fachdisziplin selbst hat. Ich argumentiere, dass letzteres der Fall ist, letztlich begründet in der Tatsache, dass nur die Psychiatrie und Neurologie Störungen behandeln, die aus einer Fehlfunktion des Gehirns resultieren. Das dadurch begründete Eingriffsrecht wird ethisch und rechtlich häufig sogar zur Pflicht. Jede Ausübung von Zwang findet seine Grenze aber stets in der Verhältnismäßigkeit und verbietet sich bei vorhandener Selbstbestimmungsfähigkeit.
18:00 Uhr
Erwarten wir einen Tsunami psychischer Störungen? Kurz- und längerfristige Folgen der COVID-19-Pandemie auf die Allgemeinbevölkerung und Menschen mit psychischen Erkrankungen
Steffi G. Riedel-Heller, Leipzig (Germany)
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Autor:innen:
Steffi G. Riedel-Heller, Leipzig (Germany)
Dirk Richter, Bern (Switzerland)
Der Beitrag gibt eine Übersicht zu kurz- und längerfristigen psychischen Folgen der COVID-19-Pandemie in der Allgemeinbevölkerung und bei Menschen mit psychischen Störungen. Die Dynamik der psychischen Reaktionen in der Allgemeinbevölkerung mit Symptomen von Ängstlichkeit, Depressivität und Belastungserleben scheint im Verlauf unmittelbar die infektionsepidemiologische Dynamik und damit das Ausbruchsgeschehen zu spiegeln. Die psychischen Reaktionen sind besonders bei Jugendlichen ausgeprägt. Diese kurzfristigen Folgen sind eher als Reaktion auf diese Belastung zu sehen. Da die Zusammenhänge zwischen Wirtschaftskrisen und häufigerem Auftreten psychischer Störungen lange bekannt sind, ist von einer rezessionsbedingten Zunahme psychischer Störungen auszugehen. Mit Blick auf die Allgemeinbevölkerung erwarten nicht unbedingt einen Tsunami, aber doch zumindest eine dritte Welle mit erhöhtem Auftreten an psychischen Störungen. Menschen mit psychischen Vorerkrankungen erwiesen sich bei früheren SARS und MERS Epidemien als besonders vulnerable Gruppe. Erste aktuelle empirische Ergebnisse werden vorgestellt. Die Ergebnisse zeigen, dass die psychische Gesundheit der Bevölkerung ein zentrales Element im Pandemiemanagement sein muss. Menschen mit psychischen Vorerkrankungen bedürfen besonderer Maßnahmen und Unterstützung.