Die neue Rechtslage zu Zwang und Gewalt entfaltet nicht nur ihre Wirkung in der Klinik, sondern koppelt sich über die Strukturen der Professionellen (Richter, Betreuer, Psychiater, Polizei, etc.) zurück in die sozialen Lebenswelt des Patienten. Damit sind die Angehörigen schon vor einer Einweisung als auch nach der Entlassung des Patienten von der neuen Rechtslage betroffen. Sind die Profistrukturen auf diese veränderte Rechtslage vorbereitet und wie wird den Angehörigen dabei geholfen?
13:15 Uhr
Behandlungs- und Lebenssituation von schwer psychisch kranken Menschen ohne Krankheits- und Behandlungseinsicht
Josef Bäuml, München (Germany)
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Autor:in:
Josef Bäuml, München (Germany)
Einführung:
Der Verlauf schizophrener Erkrankungen hat sich durch die multiprofessionelle Behandlung und die konsequente Langzeitmedikation deutlich gebessert. Trotzdem bleibt 40 – 50% eine Vollremission verwehrt, 5 – 10% chronifizieren nachhaltig.
Problematisch ist die Behandlung von psychotisch erkrankten Menschen ohne ausreichende Krankheits- und Behandlungseinsicht. Da sich die Rechtsprechung bezüglich Behandlungen gegen den Willen der Erkrankten sehr defensiv entwickelt hat, können schwer Kranke ohne akute Selbst- oder Fremdgefährdung kaum noch einer wirksamen Behandlung zugeführt werden. Oft fühlt sich „niemand“ zuständig, ohne Angehörige wären viele bedroht von Verwahrlosung, Wohnungslosigkeit und Forensifizierung.
Fragestellung:
Vergleich biographischer und krankheitsbezogener Daten von schizophren erkrankten Patienten in stationär-psychiatrischer Behandlung (COGPIP-Studie, n= 116; Pitschel-Walz et al, 2013) mit ausreichender und Bewohnern aus den Wohnungslosenhilfe-Einrichtungen in München (SEEWOLF-Studie; n=30; Bäuml et al, 2017) mit teilweise komplett fehlender Krankheitseinsicht.
Ergebnisse:
Patienten aus den Wohnungslosenhilfe-Einrichtungen im Vergleich zur COGPIP-Studie: älter (34 vs. 42 Jahre), weniger Frauen (27 vs. 55%), weniger abgeschlossene Berufsausbildungen (25 vs. 73%), mehr delinquentes Verhalten (77 vs. 16%), häufiger alkoholkrank (43 vs. 4%). Sie hatten trotz einer 14-jährigen KH-Dauer nur 3,5 stationäre Aufenthalte, bei den klinischen Patienten waren es 8,6 Jahre und 5,1 Aufenthalte. Eine „sehr gute Compliance“ wiesen Letztere in 75%, die SEEWOLF-Probanden nur in 45% auf. Einen guten Kontakt zu ihren Angehörigen wiesen 10% der SEEWOLF- und über 50% der COGPIP-Patienten auf.
Fazit:
Die hohe Rate an delinquentem Verhalten, die geringe Anzahl an stationären Behandlungen trotz längerer KH-Dauer und die nur sehr marginale Kontaktfrequenz zu den Angehörigen der Patienten aus den Wohnungslosenhilfe-Einrichtungen verdeutlichen die Problematik der fehlenden KHE. Deshalb versucht der LV-Bayern der ApK durch seine Initiative „Recht auf Behandlung“ neue Möglichkeiten zu finden, damit auch bei akut psychotisch erkrankten Patienten ohne akute SG/FG eine therapeutische Intervention passiert, bevor etwas „passiert“. Erste Ansätze dieser Initiative werden zur Diskussion gestellt.
13:30 Uhr
Wer schützt eigentlich die Angehörigen?
Karl H. Möhrmann, Bonn (Germany)
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Autor:in:
Karl H. Möhrmann, Bonn (Germany)
Während Angehörige sich in der Vergangenheit darum bemühen mussten, als notwendige Unterstützer akzeptiert und ernst genommen zu, hat sich diese Situation inzwischen positiv verändert: zumindest die organisierten Angehörigen werden heute als Gesprächspartner von den professionellen Helfern und von der Politik ernst genommen.
Trotz aller Fortschritte haben Angehörige jedoch immer noch mit mannigfaltigen Problemen zu kämpfen:
Der Gesetzgeber erlässt problematische Vorgaben, z. B. im Hinblick auf die zukünftige Personalsituation und die Vergütung in psychiatrischen Kliniken. Die Gesetzgebung berücksichtigt die Belange der Angehörigen nur unzureichend. Die UN-Behindertenrechtskonvention wird in aller Regel nur zugunsten der betroffenen Menschen ausgelegt, meist ohne die Probleme der Angehörigen auch nur zu erwähnen. Die gegenwärtige Rechtsprechung erfordert auch in Krisensituationen die Unterlassung der eigentlich notwendigen Hilfe bei Nichteinwilligung des betroffenen Menschen.
Psychiatrieerfahrene pochen auf ihre Persönlichkeitsrechte und verlangen für sich, das Recht der absoluten persönlichen Freiheit in Anspruch zu nehmen und ihre Krankheit ausleben zu dürfen ohne Rücksicht auf das soziale Umfeld nach dem Motto: „mein Kopf gehört mir!“ Die Angehörigen und das soziale Umfeld haben das halt gefälligst auszuhalten. In einer Gemeinschaft gibt es jedoch Regeln und gegenseitige Verpflichtungen für das gedeihliche Zusammenleben, welche, soweit möglich und zumutbar, von allen Beteiligten eingehalten werden sollten.