Die Berücksichtigung sozialer Prozesse - insbesondere Phänomene der Exklusion und Marginalisierung wie es oft in extremen Lebenslagen wie der Wohnungslosigkeit der Fall ist - spielt hinsichtlich der Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Erkrankungen aber auch der angemessenen Gestaltung von Unterstützungs- und Versorgungsangeboten eine entscheidende Rolle. Diesem Thema wollen wir uns sowohl aus der Experten- sowie Peer-Perspektive widmen.
Dabei weisen Studien auf einen deutlichen Zusammenhang zwischen Wohnungslosigkeit und dem Vorliegen von psychischen Erkrankungen hin. Hierbei stellt Wohnungslosigkeit jedoch eine multidimensional bedingte Problemkonstellation dar, die eine Betrachtung aus verschiedenen Perspektiven nötig macht. Daher sollen zunächst auf der Ebene des Individuums vulnerable Faktoren und individuelle Barrieren im Kontext psychischer Erkrankungen in marginalisierten Lebensverhältnissen betrachtet werden. Wie können Versorgungssysteme individuelle Faktoren berücksichtigen und auch die Versorgung von Menschen in marginalisierten Lebenssituationen sicherstellen? Im Weiteren sollen institutionelle Barrieren durch die Perspektive der medizinischen Soziologie beleuchtet werden. Auf der gesellschaftlichen Ebene zeigen Studien, dass Erfahrungen der Stigmatisierung und daraus resultierende Aspekte von Scham und Misstrauen besonders die Versorgung marginalisierter Gruppen erschwert, was im dritten Vortrag betrachtet werden soll. Um derartige Barrieren zu überwinden deuten Studienergebnisse auf den positiven Effekt durch den Einsatz von Peer-Arbeit hin. Den möglichen Nutzen und Risiken des Einbezugs überwundener Krisenerfahrung wollen wir im letzten Vortrag aus der Betroffenen- und gleichzeitig Profi-Perspektive beleuchten.
08:30 Uhr
Individuelle Aspekte psychischer Erkrankungen und Prozesse sozialer Exklusion am Beispiel der Wohnungslosigkeit
Stefanie Schreiter, Berlin (Germany)
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Autor:in:
Stefanie Schreiter, Berlin (Germany)
Bei der Entstehung von Wohnungslosigkeit handelt es sich um ein komplexes Zusammenspiel aus verschiedensten Faktoren, die strukturelle und institutionelle Probleme umfassen, aber auch individuelle Faktoren wie besondere Lebensereignisse bzw. Rückschläge.
Soziale, ökonomische und strukturelle Hintergrundfaktoren, die durch die jeweiligen regionalen Gegebenheiten häufig sehr unterschiedlich ausfallen, prägen Prozesse von Armut, Marginalisierung und sind ggf. beeinflusst durch zusätzliche Faktoren wie Flucht und Migration. Internalisierte emotionale und kognitive Barrieren wie Scham, Angst oder die Antizipation von Diskriminierung gekoppelt mit externen Barrieren wie aufwändige administrative Prozesse oder ein Mangel an Informationen über Angebote beeinflussen maßgeblich die Wahrnehmung eigener Gesundheitsbedürfnisse und die jeweilige Motivation Hilfe in Anspruch zu nehmen. Individuelle Hintergrundfaktoren wie das soziale Netz oder persönliche Einstellungen spielen darüber hinaus eine wichtige Rolle.
08:40 Uhr
Institutionelle Barrieren und Lösungen in der Gesundheitsversorgung von Menschen in Wohnungslosigkeit
Daniel Schindel, Berlin (Germany)
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Autor:in:
Daniel Schindel, Berlin (Germany)
Die prekäre gesundheitliche und soziale Lage Wohnungsloser Menschen findet auch im deutschsprachigen Raum verstärkt wissenschaftliche Beachtung und Aufarbeitung. Neben individualpsychologischen Erklärungsansätzen, für beispielsweise eine mangelnde oder verspätete Inanspruchnahme gesundheitlicher Hilfeleistungen, rücken die Akteure der Versorgung in den Analysefokus. Zum einen ihre Steuerung des Zugangs zu medizinischen Versorgungsangeboten, Art und Umfang der Versorgungsangebote selbst, aber auch die Rolle temporärer Unterbringungsformen bei der Verfestigung gesundheitlicher Ungleichheiten. Der Vortrag will einen Überblick über die Institutionen im Hilfesystem geben und umreißt mögliche Barrieren im Umgang mit ihnen. Ergänzend werden Interventionsansätze zum Umgang mit institutionellen Stigmata besprochen.
08:50 Uhr
Intersektionalität und das Stigma von Suchtkrankheiten. Stigmerfahrung und Stigmawirkung bei Menschen, die mehreren marginalisierten Gruppen zugehören
Georg Schomerus, Leipzig (Germany)
09:00 Uhr
Peer-Arbeit und Psychotherapie im Bereich der Wohnungslosigkeit – ein Blick aus der Profi- und Betroffenenperspektive
Andreas Jung, Marburg (Germany)
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Andreas Jung, Marburg (Germany)
Der Vortrag wird zunächst die eigene Geschichte als vulnerable Person – mit Psychose und Stimmenhörererfahrung und einer über einjährigen Wohnungslosigkeit in den Blick nehmen. War die Wohnungslosigkeit notwendig und letzte Konsequenz eines Scheiterns? Wäre etwas Anderes denkbar gewesen, bei einer entsprechenden Behandlung in der Psychiatrie? Wie gelang es mir trotz widriger Umstände den Weg ins Leben zu finden – mit Medikamenten oder geht es auch ohne? Erste Erfahrungen sammelte ich mit dem Trialog/Psychoseseminar als Hoffnung gebende freiwillige Unterstützung – Versöhnung mit Angehörigen, auch wenn es nicht die eigenen sind. Betreutes Wohnen als ungeliebte Brücke zur eigenen Wohnung, die mit Scham und Schuldgefühlen einher ging. Man hatte sie sich selbst nicht ausgesucht. Das Schulprojekt „Verrückt na und“ enthält die erleichternde Aufgabe in einem Tandem jungen Menschen von den subtilen Einschränkungen der Sozialpsychiatrie zu erzählen. Als Peer erhielt man von den Schüler/Innen kein Mitleid, sondern ein Mitfühlen, weil man seine Heimat verloren hatte. Dadurch entstand ein Selbstmitgefühl gegenüber der eigenen Lebensgeschichte, denn dieses Mitfühlen kam ohne Hochnäsigkeit aus. Spät aber nicht zu spät habe ich dann die EX-IN Peer Ausbildung kennen gelernt. Wohnungslosigkeit und Sucht wurden durch mein Schicksal zum Thema. Alle Wege führen nach Wien ins Neunerhaus, einem Musterbeispiel für gute Wohnungslosenhilfe. Dort entsteht durch die Finanzierung des Fonds „Soziales Wien“ die erste Peerausbildung für Menschen, die Wohnungslos waren und sind. Das ist doch ganz bestimmt ein Grund zum Feiern, auch ohne Alkohol.