Eine grundsätzliche Neustrukturierung der Klassifikation von Persönlichkeitsstörungen war im DSM-5 noch in Form eines „alternativen Modells“ in den Anhang verwiesen worden – Forschungsstand und wissenschaftlicher Konsens waren einfach noch nicht weit genug. In der ICD-11 wird dieses „neue Denken“ nun vollständig in einer dimensionalen Form umgesetzt. Die vertrauten nosologischen Subkategorien, welche in der Praxis immer wieder zu Problemen einer plausiblen Grenzziehung geführt hatten, werden nun durch ein gestuftes dimensionales Konzept ersetzt, in dem der Schweregrad der Einschränkungen stärker im Fokus steht als die inhaltlichen Qualitäten eines Störungsbildes. Wegen ihrer besonderen Spezifika wird die Borderline-Persönlichkeitsstörung als Diagnose aufrechterhalten.
Dieses Symposium setzt sich zum Ziel, aus der Perspektive der therapeutischen Praxis den Umgang mit dem „neuen Denken“ zu beleuchten: Im Zentrum steht dabei der Dreischritt neue Diagnostik – neue Therapie – neues Monitoring.
Sabine C. Herpertz führt im ersten Vortrag in die Neuordnung nach ICD-11 ein und entwickelt die Grundparameter des angemessenen therapeutischen Umgangs mit Persönlichkeitsstörungen unter dieser Perspektive. Johannes Zimmermann wird die diagnostischen Erfahrungen aus dem alternativen Modell des DSM-5 nachzeichnen und Möglichkeiten aufzeigen, mit kurzen Selbstbeurteilungsinstrumenten Schweregrad und inhaltliche Qualität des Störungsbildes zu erfassen. Damian Läge stellt eine praxisgerechte Visualisierung des diagnostischen Befundes in Form einer Symptomkarte vor und geht dabei besonders auf die mit Persönlichkeitsstörungen immer verbundenen Komorbiditäten ein. Im vierten Referat berichtet Jana Volkert Daten zur Anwendung der ICD-11 Kriterien auf das AMDP-basierte STiP Interview. Wolfgang Gaebel wird als Chair und Diskutant die präsentierten Befunde, Konzeptionen und Applikationen in den Rahmen der ICD-11 einordnen.
10:00 Uhr
Die diagnostische Neuordnung der Persönlichkeitsstörungen im ICD-11 und der therapeutische Zugang zu Funktionsstörungen
Sabine C. Herpertz, Heidelberg (Germany)
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Autor:in:
Sabine C. Herpertz, Heidelberg (Germany)
Eine grundsätzliche Neustrukturierung der Klassifikation von Persönlichkeitsstörungen war im DSM-5 noch in Form eines „alternativen Modells“ in den Anhang verwiesen worden – Forschungsstand und wissenschaftlicher Konsens waren einfach noch nicht weit genug. In der ICD-11 wird dieses „neue Denken“ nun vollständig in einer dimensionalen Form umgesetzt. Der erste und wichtigste Schritt ist dabei die Beschreibung von Schweregraden, die auf dem Boden von Funktionsbeeinträchtigungen auf der Ebene des Selbst (z.B. Selbststeuerung, Selbstwert) und der interpersonellen Beziehungen (z.B. Konfliktfähigkeit, Abhängigkeit) erfolgt und feststellt, wie breit sich diese in den verschiedenen Kontexten des Alltages der betroffenen Patient*in manifestiert. Die Beschreibung dieser Funktionsbeeinträchtigungen führt direkter als es kategoriale Diagnosen vermögen zur Therapieplanung bei individuellen Patient*innen. Therapiemodule können so ausgesucht werden, dass sie auf das individuelle Profil von Funktionsbeeinträchtigungen zugeschnitten sind.
10:10 Uhr
Kann man den Schweregrad der Persönlichkeitsstörung mit Selbsteinschätzungsinstrumenten messen? Eine Übersicht zu aktuellen Möglichkeiten, offenen Fragen und grundsätzlichen Problemen.
Johannes Zimmermann, Kassel (Germany)
10:20 Uhr
Symptomkarten machen individuelle Beeinträchtigungen der Persönlichkeit greifbar – inklusive aller Komorbiditäten
Damian Läge, Zürich (Switzerland)
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Autor:in:
Damian Läge, Zürich (Switzerland)
Persönlichkeitsstörungen gehen in aller Regel mit „Komorbiditäten“ einher: Da Menschen als ganze psychisch belastet oder erkrankt sind, ist es wichtig, über die klassischen diagnostischen Symptome für Persönlichkeitsstörungen hinauszugehen und den Gesamtbereich der Symptomatik eines jeden Patienten im Blick zu haben.
Der Vortrag stellt die Idee vor, dies in Form einer übersichtlichen und doch symptomgenauen geometrischen Anschauungskarte zu tun. Dort sind alle Symptomcluster der praxisrelevanten Störungsbilder so eingetragen, dass die typischen Übergänge zwischen den diagnostischen Kategorien hervortreten. Damit entsteht eine Art „Weltkarte“ von 21 Störungsbereichen, in der die Persönlichkeitsstörung eine zentrale Position einnimmt. Durch Einfärbung der Symptomatik einer einzelnen Person in dieser einmal definierten Karte wird das individuelle Symptombild sichtbar, sowohl innerhalb der diagnostischen Kategorie der Persönlichkeitsstörung als auch mit allen relevanten Komorbiditäten.
Der Teil der Karte, welcher dem Kernbereich der Persönlichkeitsstörung vorbehalten ist, versucht das „alte“ kategoriale Denken des ICD-10 (in der graphischen Anordnung) mit dem alternativen Modell des DSM-V (in den symptombezogenen Kriterien) zu verbinden. Diese Karte, welche im Rahmen des CE-zertifizierten Medizinprodukts KLENICO als System für die Praxis zur Verfügung steht, versteht sich damit als eine Brücke in das stärker dimensionale Verständnis des ICD-11.
10:30 Uhr
Können Psychologiestudenten die ICD-11 Kriterien zur Erfassung der Persönlichkeitsfunktion reliabel auf ein semi-strukturiertes Interview zur Erfassung der DSM-5 Persönlichkeitsfunktionen anwenden?
Jana Volkert, Heidelberg (Germany)
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Autor:innen:
Jana Volkert, Heidelberg (Germany)
Svenja Taubner, Heidelberg (Germany)
Paul Schroeder-Pfeifer, Heidelberg (Germany)
Max Zettl, Heidelberg (Germany)
Einleitung: Die 11. Ausgabe der Internationalen Statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-11) führt ein dimensionales Modell für die Diagnose von Persönlichkeitsstörungen (PS) ein, welches ähnlich wie das Alternative Modell für Persönlichkeitsstörungen im DSM-5 (AMPD) verschiedene Level der Persönlichkeitsfunktion unterscheidet. Eine Reihe von Studien belegen die Reliabilität und Validität des AMPD, jedoch liegen derzeit nur wenige Studien und Maße für die ICD-11 Klassifikation vor. In dieser Studie untersuchen wir die Interrater-Reliabilität und -Validität von PS-Schweregraden nach ICD-11, die von klinisch unerfahrenen Ratern durchgeführt wurden.
Methode: Insgesamt wurden 300 Ratings von 6 Psychologiestudenten, die den allgemeinen PS-Schweregrad bei 36 PatientInnen und 14 gesunden Kontrollen beurteilten. Die Ratings wurden basierend auf Audioaufnahmen von standardisierten Interviews zur Erfassung des Kriteriums A des AMPD durchgeführt. Zunächst wurde die Interrater-Reliabilität mit Hilfe von Intraklassen-Korrelationskoeffizienten untersucht. Zweitens wurden lineare Mixed Effect-Models durchgeführt, um die Validität der PS-Ratings der Rater zu bewerten, indem sie mit dem von Experten bewerteten DSM-5 Level der Persönlichkeitsfunktion verglichen wurden.
Ergebnisse: Die Schweregradbewertungen der klinisch unerfahrenen Rater zeigten eine gute Interrater-Reliabilität und waren signifikant mit den Expertenbewertungen assoziiert. Unsere Ergebnisse weisen darauf hin, dass die ICD-11-Schweregradklassifikation mit ausreichender Reliabilität und Validität basierend auf klinischen Interviews für Kriterium A des AMPD angewendet werden kann.