Weltweit ist ein Anstieg diagnostizierter psychiatrischer Erkrankungen zu verzeichnen. Dies spiegelt sich in Deutschland u.a. in einem kontinuierlichen Wachstum von Fallzahlen, der Anzahl niedergelassener Psychiater*innen und Psychotherapeut*innen und der stationären Bettenzahlen wider. Während somit immer mehr Menschen zu Patient*innen werden, verstärkt sich die Präsenz der Psychiatrie auch spürbar in vielen lebensweltlichen Bereichen. Ob in Grundschule oder Pflegeheim: Die Psychiatrie wird immer häufiger zu Rate oder gar zur Verantwortung gezogen, wenn es zu Problemen und Störungen kommt.
Historisch gesehen waren größere Wachstumsbewegungen der Psychiatrie häufig eng mit Innovationen verbunden, etwa mit neuen Ausgaben des DSM oder, wie im Fall des Antidepressiva-Booms der 1990er Jahre, mit neuen Produkten. Unter diesem Vorzeichen ist eine kritische Auseinandersetzung mit Psychiatrisierung im Moment wichtig und zeitgemäß, vollzieht sich in Deutschland doch aktuell eine sehr dynamische Umstrukturierung der Versorgungslandschaft. Diese wird u.a. durch Alternativen zur stationären Behandlung (z.B. Modellversorgung oder Home-Treatment) vorangetrieben oder durch ein weites Spektrum digitaler Hilfsmittel (Psychotherapie-Apps etc.).
Unterschiedliche Versorgungsgebiete daraufhin befragt werden, inwiefern sich in ihnen selbst Tendenzen zu einer Psychiatrisierung im Sinne einer Ausweitungsbewegung der Versorgungslandschaft bzw. einer zunehmenden Durchdringung der Lebenswelt durch die Psychiatrie zeigen. Fragestellungen könnten z.B. sein, ob es zu einer Verlagerung schwerst psychisch Kranker in die forensischen Psychiatrien kommt, wenn die regulären Psychiatrien sich stärker für die mittelschweren Fälle öffnen, oder wie sich e-mental-health-Angebote im Bereich der ambulanten Versorgung auswirken. Darüber hinaus soll Psychiatrisierung in den Kontext größerer gesellschaftlicher Entwicklungen der letzten Jahrzehnte gestellt werden.
13:00 Uhr
Psychiatrisierung durch Ambulantisierung? Die Fallstricke niederschwelliger Versorgungsangebote
Arno Deister, Itzehoe (Germany)
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Arno Deister, Itzehoe (Germany)
Setting-übergreifende bzw. Setting-unabhängige Behandlungsformen sind der zentrale Bestandteil von verschiedenen innovativen Versorgungs-Projekten in der Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik. Erklärtes Ziel dabei ist es, zum einen den Zugang zu psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgungsangeboten zu erleichtern, zum anderen aber auch eine stationäre oder teilstationäre Versorgung nur dann durchzuführen, wenn die ambulante Versorgung nicht möglich ist. Dadurch ändern sich jedoch nicht nur die Strukturen, sondern auch das Verhalten der Patientinnen und Patienten. Behandlungsangebote werden leichter zugänglich. Auch Menschen, die eher eine allgemeine und unterstützende Beratung als eine gezielte psychiatrische Therapie benötigen, finden auf diese Weise Zugang zum Versorgungssystem. Es besteht die Tendenz, dass finanzielle und personelle Ressourcen stärker in den ambulanten Bereich verlagert werden. Auf der anderen Seite gibt es die Gefahr, dass dadurch für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen nicht mehr die erforderlichen Ressourcen vorgehalten werden können. Die Stationsäquivalente Behandlung (StÄB) zeigt, dass Behandlungen im sozialen Kontext der Patientinnen und Patienten eine veränderte Rollenverteilung mit sich bringen. Auf diese ist das Versorgungssystem noch nicht ausreichend eingestellt. Es bleibt zu beachten, dass sich sowohl Gesellschaft als auch das psychiatrische Versorgungssystem auf diese veränderten Strukturen adäquat einstellen.
13:10 Uhr
Psychiatrisierung durch Digitalisierung? E-Mental-Health in der Kritik
Timo Beeker, Rüdersdorf (Germany)
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Autor:in:
Timo Beeker, Rüdersdorf (Germany)
Internetbasierte Therapieansätze werden inzwischen für nahezu das gesamte Spektrum psychiatrischer Diagnosen angeboten. Während dies in großen Teilen der Fachwelt begrüßt wird, gerät leicht aus dem Blick, dass die digitale Psychiatrie nicht zuletzt auch ein Geschäftsmodell ist. Bereits aus dem Aufbau einzelner Anwendungen wird ersichtlich, dass viele digitale Angebote ebenso sehr einer Marktlogik folgen wie einer therapeutischen Denkweise. So sind z.B. Eingangstests häufig auffällig vage und unspezifisch konzipiert. Daran ist u.a. problematisch, dass Grenzen verwischt werden zwischen Stresssymptomen und Befindlichkeitsstörungen einerseits und behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankungen andererseits. Die Produktion einer hohen Anzahl falsch positiver Ergebnisse ist somit im Wortsinne „vorprogrammiert“, woraus vor allem die meist privatwirtschaftlichen Anbieter einen direkten Nutzen ziehen.
Angesichts aktueller Entwicklungen innerhalb der Psychiatrie (z.B. weltweit steigende Prävalenzen, Hinweise auf Überdiagnostik und Überbehandlung) bietet die sich in Aufbau und Funktionsweise vieler Anwendungen zeigende Überschneidung therapeutischer und ökonomischer Interessen Anlass zur Sorge. Ähnlich wie der Antidepressiva-Boom in den 1990er Jahren könnte die oftmals für ihre Niederschwelligkeit gelobte digitale Psychiatrie eine neue Welle der Psychiatrisierung von Gesellschaft und individuellen Lebenswelten auslösen.
Im Rahmen des Vortrages soll anhand konkreter Beispiele gezeigt werden, auf welche Weise digitale Hilfsangebote Gefahr laufen können, vor allem die an eher unspezifischen Beschwerden leidenden „worried well“ anzusprechen. Dies unterstreicht, dass digitale Hilfsangebote einer genauen Prüfung bedürfen, die über eine bloße Wirksamkeitstestung hinausgeht. Zudem werden Auswirkungen auf die User selbst sowie die konkreten Auswirkungen einer großflächigen Nutzung derartiger Angebote auch im Hinblick auf Versorgungssystem und die gesamte Gesellschaft diskutiert.
13:20 Uhr
Böse oder krank? Psychiatrisierung in der Forensik
Jutta Muysers, Langenfeld (Germany)
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Jutta Muysers, Langenfeld (Germany)
Die extrem schwierige Frage krank oder kriminell im Spannungsfeldzwischen Allgemeinpsychiatrie , forensischer Psychiatrie und Gesellschaft soll anhand ganz konkreter Beispiele diskutiert werden. Dabei wird der aktuelle Diskurs um die suchtkranken Straftäter anhand der Probleme des freien Willens , der Sinnhaftigkeit der Unterbringung und bezüglich pro und kontra dargestellt. Es folgen Ausführungen zur Problematik schizophrener Straftäter , deren Unterbringungszahlen deutlich zunehmen. Schliesslich werden Gefahrenquellen und Fallstricke aus Sicht der Psychiatrie dargestellt und aufgeführt wie man diesem Dilemma durch sauberes Abarbeiten der jeweiligen Fragestellung entgehen kann.
13:30 Uhr
Psychiatrisierung aus soziologischer Perspektive
Dirk Richter, Bern (Switzerland)
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Autor:in:
Dirk Richter, Bern (Switzerland)
Viele Probleme im Alltag werden heutzutage durch psychologische sowie psychiatrische Theorien und Begriffe erklärt. Angefangen von der Pädagogik über Beziehungsprobleme bis hin zum Strafrecht durchdringen psychologische und psychiatrische Denkweisen die moderne Gesellschaft. Der Beitrag versucht, die Entwicklung dieses Sachverhalts seit der Mitte des 20. Jahrhunderts nachzuvollziehen und die Auswirkungen auf die Gegenwartsgesellschaft zu beschreiben.