Vor 75 Jahren endete der Zweite Weltkrieg, wurden die Konzentrationslager der Nationalsozialisten befreit, endeten der nationalsozialistische Massenmord an Juden, Sinti und Roma, Menschen mit Behinderungen und psychischen Krankheiten sowie die Medizinverbrechen an KZ-Häftlingen.
Eine unüberschaubare Vielzahl von Publikationen zu den Verbrechen an Menschen mit Behinderung oder psychischen Erkrankungen während der NS-Zeit liegt vor. Es gibt detaillierte Studien über die Organisation der verbrecherischen Aktivitäten, über deren Opfer, über deren Täter, über die bevölkerungs-, sozial- und wehrpolitischen Hintergründe usw. Viele psychiatrische Institutionen, die Fachgesellschaft DGPPN und andere haben ihre Geschichte in der NS-Zeit kritisch aufbereitet und die Ergebnisse publiziert. Im Laufe der Zeit haben sich die Narrative der Täter und Mitwisser über die verbrecherischen Ereignisse, aber auch die Deutungsparadigmen der Motive, Gründe, Hintergründe usw. verändert.
Heute ist unumstritten, dass prominente Fachvertreter, aber auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aller Ebenen in Krankenhäusern, Behinderteneinrichtungen usw. mehr oder minder aktiv, teilweise enthusiastisch überzeugt an den Verbrechen mitgewirkt haben. Keineswegs war es nur eine kleine, verführte oder gar gezwungene Minderheit.
Fast vergessen sind heute leider die Anfänge der kritischen Aufarbeitung schon in den Nachkriegsjahren. Deren Akteure mussten viel Mut aufbringen, um gegen den gesellschaftlichen Mainstream jener Zeit, gegen das Schweigekartell, gegen die Feindseligkeiten von Tätern und ihren Unterstützern in den Berufsverbänden, Fachgesellschaften, Ärztekammern usw. anzukämpfen. Das Symposium setzt sich das Ziel, an ausgewählten Beispielen mutiger Persönlichkeiten die frühe Aufarbeitung der Krankenmorde bekanntzumachen. Am Beispiel Karl Bonhoeffers wird gezeigt, dass gleichwohl selbst Gegner des Nationalsozialismus nicht immer den Schritt zur schonungslos-grundsätzlichen Kritik gehen konnten.
13:10 Uhr
Die Beiträge von Werner Leibbrand (1896-1974)
Ralf Seidel, Mönchengladbach (Germany)
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Ralf Seidel, Mönchengladbach (Germany)
Der Psychiater und Medizinhistoriker Werner Leibbrand trat nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten aus Protest gegen den Ausschluss der jüdischen Kollegen aus dem Berliner Ärztlichen Standesverein aus. Er verlor sowohl seine Kassenzulassung, wie seine berufliche Position im öffentlichen Gesundheitsdienst. Das letzte Kriegsjahr überstand Leibbrand gemeinsam mit seiner jüdischen Frau abgetaucht in unterschiedlichen Verstecken. Direkt nach Kriegsende wurde er zum Direktor der Erlanger Heil- und Pflegeanstalt ernannt. Bald darauf bestellte ihn die amerikanische Militärbehörde zum sachverständigen Zeugen der Anklage für Fragen der medizinischen Ethik im Nürnberger Ärzteprozess. Später übernahm er den Lehrstuhl für Medizingeschichte an der Münchner Universität. Neben einem biografischen Überblick wird Leibbrands entschiedene Parteinahme gegen das NS-Regime, sowie seine klare Ablehnung der national-sozialistischen Sozial- und Gesundheitspolitik als Gutachter im Prozess, skizzenhaft zur Darstellung gebracht. Danach wird angedeutet in welche Konflikte er - zunächst gerade wegen dieser eindeutigen Positionierung - schließlich aber auch aufgrund gegebener persönlicher Loyalitäten, in den Wirren der unmittelbaren Nachkriegszeit verstrickt werden sollte.
13:20 Uhr
Karl Bonhoeffers Positionen nach 1945
Michael Seidel, Bielefeld (Germany)
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Autor:in:
Michael Seidel, Bielefeld (Germany)
Karl Bonhoeffer, von 1912 bis 1938 Direktor der Klinik für Psychische und Nervenkrankheiten der Charité, wollte, obwohl erklärter Gegner der Zwangssterilisierung, durch erbbiologisch-psychiatrische Kurse und Publikationen, Mitwirkung an der Begutachtung in Erbgesundheitsverfahren und im Erbgesundheitsobergericht mäßigend auf die Umsetzung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses von 1933 einwirken.
In seiner „Einführung“ zur „Zeitschrift für Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie“ (1949) wies er darauf hin, die nationalsozialistische Auffassung, die psychiatrische Beschäftigung mit Unheilbaren und Arbeitsunfähigen sei Humanitätsduselei, habe in der systematischen Tötung von Tausenden von Geisteskranken ihre letzte Auswirkung gefunden. Daran anknüpfend behauptete er, es sei „eine unzutreffende Verallgemeinerung …, eine solche Entartung des ärztlichen Denkens einzelner fanatisierter führender nationalsozialistischer Ärzte dem deutschen Psychiater generell zu unterstellen.“ Im „Ein Rückblick auf die Auswirkungen und die Handhabung des nationalsozialistischen Sterilisationsgesetzes“ (1949) postulierte er, das deutsche Gesetz habe fast ausschließlich eugenischen Charakter gehabt; soziale, kriminalpolitische und rassepolitische Gesichtspunkte würden fast völlig fehlen. In seinen Lebenserinnerungen erläuterte er, warum und wie er an der Umsetzung des NS-Gesetzes mitwirkte. Kein Hinweis findet sich auf die Ermordung psychisch kranker und behinderter Menschen.
In der Zusammenschau seiner kargen öffentlichen Äußerungen nach Ende der NS-Herrschaft bleibt die Erkenntnis: Karl Bonhoeffer hat mit seiner großen Autorität – und wenn auch nur unabsichtlich – maßgeblich beigetragen zur Herausbildung des Narrativs, nur wenige fanatische nationalsozialistisch gesinnte Ärzte hätten die Verbrechen zu verantworten, und zur Praxis des Verschweigens der Verbrechen.
13:30 Uhr
Die Narrative der ersten Jahre nach 1945
Hans-Walter Schmuhl, Bielefeld (Germany)
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Hans-Walter Schmuhl, Bielefeld (Germany)
Bereits in den ersten Jahren nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ setzte eine intensive Auseinandersetzung mit dem Massenmord an psychisch kranken und geistig behinderten Menschen unter nationalsozialistischer Herrschaft ein. Getragen wurde der Diskurs vor allem von Ärzten und Ärztinnen, die die Prozesse gegen Protagonisten der NS-„Euthanasie“ vor alliierten, später vor deutschen Gerichten als Beobachter und Beobachterinnen begleiteten. Die Narrative, die von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke, Alice Platen-Hallermund, Francois Bayle oder Robert Poltrot entwickelt wurden, waren von diesem Kontext geprägt. Sie orientierten sich an der „Sachverhaltsarbeit“ der Gerichte, die – in Ermangelung historischer Forschungen – anhand von Dokumenten und Zeugenaussagen ein Faktengerüst akribisch (re-)konstruieren mussten und sich dabei von juristischen Kriterien leiten ließen. Dies hatte zur Folge, dass manche Aspekte und Komplexe des Vernichtungsgeschehens – insbesondere die „regionale Euthanasie“ nach dem August 1941 – weitgehend ausgeblendet wurden und dass sich der Blick auf vergleichsweise wenige Haupttäter verengte, denen sich eine Schuld im strafrechtlichen Sinn zuschreiben ließ. Manche der frühen Veröffentlichungen suchten allerdings – über die Dokumentation der Fakten hinaus – nach Deutungen des Geschehens und eröffneten dabei Horizonte, die über die bloße moralische oder juristische Schuldzuweisung hinauswiesen. Dabei wurde mitunter eine naturwissenschaftliche Grundlegung der Medizin als die Wurzel des Übels benannt, die zu einer „moralischen Anästhesie“ (Viktor v. Weizsäcker) gegenüber dem Leiden der Opfer von „Euthanasie“ und Menschenversuchen geführt habe. Diese Sicht verstellte den Blick darauf, dass im Sinne einer Dialektik von Heilen und Vernichten auch Vertreter einer tendenziell sozialpsychiatrischen Richtung zur planenden Intelligenz des „Euthanasie“-Apparates gehörten.