Verhaltensbeobachtung ist aktuell die Hauptinformationsquelle für klinische Entscheidungen im Diagnoseprozess der Autismus-Spektrum-Störungen, ASS, welcher vor allem im Erwachsenenalter eine große Herausforderung darstellt. Die diagnostische Reliabilität der klinischen Eindrucksbildung ist dabei erheblich abhängig von der klinischen Erfahrung des Diagnostikers.
Methoden der digitalen Verhaltensaufzeichnung und –auswertung zeigen hohes Potential für objektivere und ressourcenschonendere Diagnostik anhand von Verhaltensmarkern wie nonverbale Kommunikationsmuster, Bewegungsmuster, Augenbewegungen, Gesichtsausdrücke u.v.m.
Die vorgestellten Ansätze untersuchen das Potential digitaler Messmethoden und Machine Learning für die unterstützte Diagnostik von ASS. Zeitlich hochaufgelöste Parameter der Koordinierung von Blick und Gestik werden unter Verwendung von Eye-Tracking und computergestützter Bewegungsdetektion in einem standardisierten, interpersonellen Setting an Erwachsenen mit und ohne ASS untersucht. Das Zusammenspiel von Sprache und Blickverhalten in Avatar basierten Interaktionen zwischen Menschen mit und ohne ASS wird mittels inferenzstatistischer Ansätze und Machine Learning basierten Klassifikationsalgorithmen auf die Anwendbarkeit zur Unterstützung der Diagnostik untersucht. Die zeitliche Koordination von behavioralen und biologischen Parametern wird in interpersonellen Settings analysiert untersucht. Und in einer weiteren Studie werden Gesichtsausdruck, Blickverhalten und Stimme mittels Videoanalyse in einer standardisierten simulierten Interaktion automatisch erfasst.
Digitale Methoden der vorgestellten Art könnten in der Zukunft eine wichtige unterstützende Komponente der Phänotypisierung und klinischen Entscheidungsfindung darstellen und dabei sowohl zu einer effizienteren Diagnostik als auch einer institutsübergreifenden Angleichung von diagnostischen Standards beitragen.
14:30 Uhr
Zeitliche Muster nonverbaler Kommunikation – eine behaviorale Studie zur Untersuchung der zeitlichen Kopplung von Blick und Gestik bei erwachsenen Personen mit und ohne Autismus-Spektrum-Störung
Carola Bloch, München (Germany)
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Autor:in:
Carola Bloch, München (Germany)
Interpersonelle Synchronie als Korrelat funktionaler zwischenmenschlicher Kommunikation führt zu prosozialen Effekten wie Sympathie, Empathie und Rapport. Doch welche Mechanismen liegen interpersoneller Synchronie zu Grunde und wie sind sie zeitlich gekoppelt? Unter dem theoretischen Mantel von ‚Chronemics‘ werden Kommunikationstheorien erfasst, die unter anderem zeitlichen Faktoren während der intrapersonalen Signalproduktion eine wichtige Rolle bei der Koordination von Signalen zwischen Personen zuschreiben.
In dieser Studie untersuchen wir die Produktion von nonverbalen Kommunikationssignalen. In einem standardisierten, INTERpersonellen Setting werden zeitliche Parameter der Koordinierung von Blick und Gestik in einer Zeige-Aufgabe als Effektgrößen INTRApersoneller Synchronie erfasst.
Der Einschluss von erwachsenen Kontrollprobanden sowie Probanden mit der Diagnose Autismus-Spektrum-Störung (ASS) soll Aufschluss über typische Kopplungsmechanismen und potenzielle Abweichungen bei ASS geben. Motorische und sensorische Auffälligkeiten sowie atypisches perzeptuelles und motorisches Timing bei ASS lassen vermuten, dass sich solche Auffälligkeiten in Form von Parametern intrapersoneller Synchronie im sozialen Kontext wiederspiegeln. Es kann weiterhin vermutet werden, dass mögliche Störungen der intrapersonellen Synchronie auch einen Erklärungsansatz liefern könnten für die reduzierte interpersonelle Synchronie zwischen Personen mit und ohne ASS.
14:42 Uhr
Klassifikation von Autismus-Spektrum-Störungen auf der Basis des Zusammenspiels von Sprache und Blickverhalten in avatar-basierten Interaktionen
Mathis Jording, Jülich (Germany)
14:54 Uhr
Videoanalyse von Gesichtsausdruck, Blickverhalten und Stimme in einer standardisierten simulierten Interaktion bei Autismus-Spektrum-Störungen
Hanna Drimalla, Potsdam (Germany)
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Autor:innen:
Hanna Drimalla, Potsdam (Germany)
Tobias Scheffer , Potsdam (Germany)
Niels Landwehr , Potsdam (Germany)
Irina Baskow, Berlin (Germany)
Stefan Röpke, Berlin (Germany)
Behnoush Behnia, Berlin (Germany)
Isabel Dziobek, Berlin (Germany)
Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion treten bei vielen psychiatrischen Erkrankungen auf und sind besonders charakteristisch für das Autismus-Spektrum. Eine objektive Messung und genaue Quantifizierung der sozial-kognitiven Beeinträchtigung könnte den diagnostischen Prozess verbessern und therapeutische Interventionen unterstützen. Zu diesem Zweck haben wir eine standardisierte simulierte Interaktion entwickelt, während der das nonverbale Verhalten computer-basiert analysiert wird.
Der Simulated Interaction Task (SIT) umfasst einen standardisierten 7-minütigen simulierten Dialog per Video und die automatisierte Analyse von Gesichtsausdruck, Blickverhalten und Stimmcharakteristika. In einer Studie mit 37 Erwachsenen mit Autismus-Spektrum-Störung (ASS) ohne Intelligenzminderung und 43 gesunden Kontrollpersonen zeigen wir das Potenzial des Instruments als Diagnoseinstrument und zur besseren Beschreibung von ASS-assoziierten sozialen Phänotypen. Mit Maschinellem Lernen konnten wir Personen mit ASS mit einer Genauigkeit von 73%, einer Sensitivität von 67% und einer Spezifität von 79% allein auf der Grundlage ihrer Mimik und Stimmmerkmale erkennen. Charakteristisch für Personen mit ASS waren ein reduziertes soziales Lächeln und verringerte Gesichtsmimikry sowie eine höhere Stimmgrundfrequenz und ein höheres Harmonie-Rausch-Verhältnis. Die computer-basierte Analyse des individuellen Gesichtsausdrucks, des Blickverhaltens und von Stimmmerkmalen ermöglichte die Erkennung von ASS mit einer Genauigkeit vergleichbar zu Expertenratings.
Der Einsatz interaktiver digitaler Paradigmen in Kombination mit automatischer Videoanalyse und Methoden des Maschinellen Lernens scheint vielversprechend, um sozial-interaktive Beeinträchtigungen präziser zu messen und besser zu verstehen. In einem nächsten Schritt planen wir das Interaktionsverhalten über verschiedene Psychopathologien hinweg zu vergleichen und die diagnostische Spezifität der digitalen Interaktionsanalyse einzuschätzen.
15:06 Uhr
Soziale Synchronie im interpersonellen Setting als Parameter für die automatisierte Klassifikation von Autismus-Spektrum-Störungen
Jana Köhler, München (Germany)
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Autor:in:
Jana Köhler, München (Germany)
Grundlegende Defizite in sozialer Interaktion und Kommunikation sind charakteristisch für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS). Diese Defizite zeigen sich unter anderem in verringerter zeitlicher Bewegungskoordination oder Synchronie mit anderen Personen. Steigende Prävalenzraten und zeitintensive Diagnostikprozesse erfordern neue Lösungsansätze in der Diagnostik von ASS. Obwohl oftmals als Störung der sozialen Interaktion beschrieben, bleibt es eine Herausforderung diesen interpersonellen Aspekt in eine objektive Diagnostik von ASS zu integrieren.
Um die Spezifität von interpersoneller Bewegungssynchronie für ASS zu untersuchen wurden Patienten der Inanspruchnahmepopulationen der Spezialambulanzen in München und Köln beim diagnostischen Erstkontakt gefilmt. Ergebnisse deuten auf eine signifikant verringerte Synchronie zwischen Patient und Diagnostiker in der Gruppe der Patienten hin, die später mit ASS diagnostiziert wurden. Sowohl bei den standardisierten Screening-Tools als auch der Bewegungshäufigkeit fanden sich hingegen keine signifikanten Unterschiede.
Die zunehmende Verzahnung von maschinellem Lernen und psychiatrischer Forschung hat bereits vielversprechende Ergebnisse hervorgebracht, ASS anhand von phänomenologischen, behavioralen oder bildgebenden Daten zu klassifizieren. Um den diagnostischen Nutzen von intrapersoneller Synchronie (zwischen Kopf und Körper) zu untersuchen wurden Videos naturalistischer sozialer Interaktionen zwischen Probanden mit und ohne ASS mittels einer objektiven pixel-change-Methode analysiert und anschließend ein Klassifikationsalgorithmus trainiert. Anhand der automatisierten Extraktion von intrapersoneller Synchronie konnten Probanden mit und ohne ASS mit einer hohen Genauigkeit unterschieden werden.
Gepaart mit weiteren Kommunikations- und klinischen Parametern bieten sorgfältig konstruierte und korrekt angewandte Klassifikationsalgorithmen das Potential, zukünftig den komplexen Phänotyp von ASS erfassen zu können.