Die Coronavirus-Pandemie ist für Menschen eine massive psychosoziale Belastung. Sie schränkt das private, berufliche und gesellschaftliche Leben stark ein - bedingt durch die Kontaktbeschränkungen („social distancing“). Betroffen sind v.a. Menschen mit psychischen Vorerkrankungen aufgrund erhöhter Vulnerabilität für Stresserleben. Zudem verfügen Patienten häufig nicht über ausreichend Bewältigungsstrategien.
Ein Göttinger Forschungsprojekt befasst sich mit der Ermittlung psychosozialer Belastung bei einem breiten Spektrum psychiatrischer Erkrankungen im Verlauf der Pandemie. In einer ersten Erhebung während der Akutphase der Kontaktbeschränkungen wurden insgesamt N = 211 nicht-stationäre psychiatrische Patienten zu deren psychosozialer Belastung befragt. Auch erfolgte eine retrospektive Einschätzung der psychosozialen Belastung, sowohl vor- als auch in der Anfangsphase der Pandemie. Die zweite Erhebung ist für die Zeit nach der Pandemie geplant.
Die longitudinale Perspektive ist hochrelevant, da vermutet wird, dass die Infektionsschutz-bedingte soziale Isolation zunächst von vielen psychisch erkrankten Patienten als Entlastung erlebt wird. Mittel- bis langfristig ist davon auszugehen, dass sich Belastungserleben und psychische Symptomatik durch soziale Isolation, Kommunikationsmangel, reduzierte Interaktionen und eingeschränkte Alltagsstruktur verstärken werden und daraus Rezidive und Rückfälle resultieren. Nach dem Ende der Pandemie wird die sozialen Isolation langsam aufgehoben. Es ist zu erwarten, dass die Symptomatik der psychischen Erkrankungen –durch die wieder verfügbaren Behandlungsmaßnahmen – langfristig abnimmt.
Das Ziel ist es aus dem Projekt Präventionsstrategien und Interventionsmöglichkeiten abzuleiten und zu konzeptualisieren. Diese Interventionen sollen sich mit der Optimierung des Umgangs mit Epidemien, der Analyse des Krisenmanagements und in der Gestaltung des Gesundheitswesens unter psychischen/psychiatrischen Gesichtspunkten befassen.
14:30 Uhr
Auswirkungen der Corona-Pandemie auf psychische Störungen: Studiendesign und -methoden eines Göttinger Forschungsprojekts (Gö-BSI)
Claudia Bartels, Göttingen (Germany)
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Autor:in:
Claudia Bartels, Göttingen (Germany)
Angesichts eines reduzierten Funktionsniveaus und eines eingeschränkten Spektrums an Bewältigungsstrategien sind psychiatrische Patienten besonders vulnerabel für Stresserleben und können mit Symptomverschlechterungen, Rezidiven oder Rückfällen reagieren. Dadurch können diese Patienten i.R. der Corona-Pandemie zu einer psychiatrischen Risikogruppe mit besonderem Behandlungsbedarf gezählt werden. Es ist zudem davon auszugehen, dass psychosoziale Belastung und psychiatrische Symptome im Gefolge des Pandemiegeschehens und damit verbundenen Maßnahmen (Kontaktbeschränkungen, Hygienevorgaben, Einschränkungen des gesellschaftlichen, privaten und beruflichen Lebens) einem Verlauf mit Be- und Entlastung folgen.
Mit Hilfe des Göttinger Belastungs- und Störungsinventars (Gö-BSI) wurden ambulante, psychiatrische Patienten der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universitätsmedizin Göttingen zu psychosozialer Belastung, Symptomen und Resilienzfaktoren befragt. Zusätzlich integriert das Gö-BSI das etablierte Adjustment Disorder New Module 20 (ADNM-20) zur Erfassung von Anpassungsstörungen. Zu einem ersten Erhebungszeitpunkt (T1) wurden bereits Daten von N=213 psychiatrischer Patienten in Telefoninterviews erhoben mittels a) retrospektiver Einschätzung zu einem Zeitpunkt vor Beginn der Pandemie, b) unter Bedingungen des maximalen Lockdowns und c) zum damaligen, aktuellen Zeitpunkt (Ende der stärksten Beschränkungen). Eine zweite Messung zur Erfassung von längerfristigen Folgen ist geplant. Weitere Erhebungen in Abhängigkeit des Pandemiegeschehens zur weiteren Charakterisierung von Langzeitverläufen sind möglich.
Das Ziel des Projekts ist die Kartierung individueller psychosozialer Bedarfe im Pandemiefall. Dazu sollen psychiatrische Risikopatienten mit ungünstigen Verläufen identifiziert werden, aus den Daten Präventionsstrategien und Interventionsmöglichkeiten abgeleitet und konzeptualisiert sowie Strukturen zur effizienten Behandlungszuweisung entwickelt werden.
14:40 Uhr
Psychosoziale Belastung im Verlauf der Corona-Pandemie: erste Ergebnisse zum Gö-BSI: z. B. Symptomverläufe, Auswirkung von Social-Distancing, Identifikation von Resilienzfaktoren
Michael Belz, Göttingen (Germany)
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Michael Belz, Göttingen (Germany)
Basierend auf den Angaben von N = 213 Patienten aus der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie (UMG) wurden Analysen zu den Gütekriterien des Gö-BSI und zum post-hoc eingeschätzten Verlauf der psychosozialen Belastung durchgeführt.
Die Interne Konsistenz der Items zur psychosozialen Belastung lag im sehr guten Bereich (Cronbachs α = ,84 bis ,90). Zudem zeigte sich eine hohe konkurrente Validität mit dem invers kodierten ADNM-20 Summenwert (r = -0,588). Weiterhin waren die Items zur psychosozialen Belastung sensitiv für unterschiedliche Verläufe zwischen den Subgruppen unter, bzw. über dem ADNM-20 Cut-off (p < ,001).
Die Pat. gaben an, am häufigsten die neuen allgemeinen Symptome (1) „erhöhte Wachsamkeit“, (2) „mehr Mediennutzung“ sowie (3) „Achten auf Symptomen bei anderen“ entwickelt zu haben. Der Verlauf der psychosozialen Belastung wurde zu Beginn der Pandemie als stark zunehmend, anschließend wieder als moderat abnehmend beschrieben (p < ,001). Dieses Muster zeigte sich konstant für die Geschlechter männlich vs. weiblich, wobei weibliche Pat. ein generell erhöhtes Belastungsniveau aufwiesen (p = ,018). Differenziert nach den häufigsten ICD-10 F-Achsen (F2, F3, F4, F6, F8) zeigten sich zwar generelle Unterschiede im Belastungsniveau (p < ,001), jedoch war der oben beschriebene Verlauf mit anfänglicher Zunahme und anschließender Abnahme der psychosozialen Belastung für annähernd alle Subgruppen weiterhin konstant.
Die Items zum Verlauf der psychosozialen Belastung im Gö-BSI haben sich in der Studie bewährt. Bei der überwiegenden Mehrheit der Pat. bestand eine initiale Zunahme des psychosozialen Belastungsniveaus, das mit dem Fortschreiten der Pandemie wieder moderat abnahm. Ein angepasstes telemedizinisches Angebot zu Beginn möglicher zukünftiger Infektionswellen ist somit als sinnvoll anzusehen: So kann mit den Pat. Kontakt gehalten und ein ansteigendes Belastungsniveau abgefangen werden – insbesondere bei der mittels ADNM-20 erfassten Hochrisikogruppe
14:50 Uhr
Psychosoziale Belastung: Ergebnisse von ausgesuchten Sub-Gruppen zum Gö-BSI (Trauma, Autismus, Störung der sexuellen Identität, u.s.w.)
Ulrike Schmidt, Bonn (Germany)