Intellektuelle Entwicklungsstörungen gehen einher mit einem erheblich erhöhten Risiko für somatische sowie psychische Erkrankungen. Die Ursachen für intellektuelle Entwicklungsstörungen sind ausgesprochen heterogen, von idiopathischen Formen bis hin zu komplexen seltenen Erkrankungen und geprägt von hoher Komorbidität. Die Versorgungssituation stellt sich über die gesamte Lebensspanne hinweg als unzureichend dar, insbesondere im Bereich psychischer Störungen, an der Schnittstelle zu körperlichen Erkrankungen sowie in der Transition von Jugend ins Erwachsenenalter. Das Symposium behandelt verschiedene Beispiele für ätiologische Konzepte, aktuelle Forschungsansätze sowie Versorgungskonzepte. Defizite in der aktuellen Versorgungssituation von Menschen mit intellektuellen Entwicklungsstörungen werden adressiert und Handlungsnotwendigkeiten aufgezeigt.
16:15 Uhr
Das Social Brain Network Model bei intellektueller Entwicklungsstörung: von der Neurowissenschaft zu Behandlung und Unterstützung
Tanja Sappok, Berlin (Germany)
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Tanja Sappok, Berlin (Germany)
Die intellektuelle Entwicklungsstörung (Synonyme: Lernbehinderung, Intelligenzminderung, kognitive Beeinträchtigung/Behinderung) ist eine Störung der Hirnentwicklung. Neben den rein intellektuell-kognitiven Fähigkeiten sind auch sozio-emotionale Kompetenzen beeinträchtigt, die sowohl für das adaptive Verhalten als auch für die Entstehung psychischer Störungen zentral sind. Die Kenntnis der neurobiologischen Grundlagen des sich entwickelnden Gehirns und der damit verbundenen Hirnfunktionen kann zu einem besseren Verständnis von psychischer Gesundheit bei Personen mit Lernbehinderung beitragen. Dazu wird die Entwicklung der verschiedenen Anteile des limbischen Systems mit den sich entwickelnden mentalen und (sozio-)emotionalen Hirnfunktionen in Beziehung gesetzt. Dabei bauen übergeordnete Netzwerke bzw. Hirnfunktionen auf Netzwerken auf, die früher im Entwicklungsprozess entstanden sind. Die jeweiligen Grundbedürfnisse, Entwicklungsaufgaben und Möglichkeiten, die Welt wahrzunehmen und sich entsprechend zu verhalten, hängen von der Reifung der verschiedenen Komponenten des limbischen Systems ab. Bei Personen mit intellektueller Beeinträchtigung können Entwicklungsdefizite in den mentalen und emotionalen Hirnfunktionen zur Entwicklung von Verhaltens- und psychiatrischen Störungen beitragen. Das Entwicklungskonzept der mentalen Funktionen verbindet die neuroanatomische Ebene des entstehenden limbischen Systems (Struktur) mit den damit assoziierten mentalen, emotionalen und Verhaltensmöglichkeiten einer Person (Funktion). Diese Entwicklungsperspektive von psychischer Gesundheit bei Personen mit Intelligenzminderung kann einen dimensionalen Aspekt in der psychiatrischen Diagnostik, Behandlung und Betreuung dieses Personenkreises hinzufügen.
16:30 Uhr
Das Konzept der Verhaltensphänotypen – eine kritische Standortbestimmung
Michael Seidel, Bielefeld (Germany)
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Michael Seidel, Bielefeld (Germany)
Das Konzept der Verhaltensphänotypen (engl.: behavioral phenotypes) wurde 1971 vom Pädiater Prof. William L. Nyhan eingeführt. Er nahm an, die Verhaltensbesonderheiten seien regelmäßig vorkommende, obligate klinische Merkmale des von ihm mitentdeckten Lesch-Nyhan-Syndroms. Mittlerweile weiß man, dass diese Verhaltensbesonderheiten keineswegs in jedem Einzelfall eines Lesch-Nyhan-Syndroms vorliegen. Gleiches gilt für die Verhaltensmuster anderer genetischer Störungsbilder. Die Auffassungen über Inhalt und konstitutive Merkmale (kognitive, emotionale, sprachliche, motorische Aspekte usw.) der Verhaltensphänotypen gehen weit auseinander. Überdies ist zu fragen, ob der Begriff der Verhaltensphänotypen nicht auch berechtigt ist für Syndromgestaltungen, die auf definierte exogene Noxen zurückgehen, beispielsweise das Fetale Alkoholsyndrom.
Das Konzept der Verhaltensphänotypen ist auch deshalb bedeutsam, weil die Erkennung eines konkret vorliegenden Verhaltensphänotyps der pädagogischen Begleitung und heilpädagogischen Förderung der betroffenen Person wesentliche Impulse zu vermitteln vermag. Außerdem erlaubt die Kenntnis spezifischer Risiken für somatische und psychiatrische Komorbiditäten bei genetisch bedingten Störungsbildern eine gezielte Beobachtung, frühzeitige Erkennung und frühe Intervention hinsichtlich solcher Komorbiditäten.