Odysseus-Verfügungen oder „self-binding directives“ stellen eine spezielle Form der Vorausverfügung dar, mit deren Hilfe Betroffene für bestimmte zukünftige Situationen im Voraus selbst bestimmen können, wann sie ein Eingreifen anderer Personen wünschen. Während beispielsweise in den Niederlanden eine gesetzliche Regelung für die Anwendung von Odysseus-Verfügungen in der psychiatrischen Versorgung existiert, stellen sie im deutschsprachigen Raum ein bislang noch nicht etabliertes Vorausplanungsinstrument dar.
Diskutiert werden Odysseus-Verfügungen vor allem für Menschen mit wiederkehrenden manischen bzw. psychotischen Episoden, in denen sich die betroffenen Personen manchmal selbst Schaden zufügen oder Entscheidungen treffen, die sie in stabileren Phasen so nicht hätten treffen wollen. In solchen Situationen hätten sich manche Betroffene möglicherweise rückblickend gewünscht, dass früher – ggf. sogar unter Anwendung von Zwang – eingegriffen worden wäre.
In der wissenschaftlichen Literatur wird eine Vielzahl an klinischen und ethischen Chancen und Risiken von Odysseus-Verfügungen diskutiert, deren Relevanz für die klinisch-psychiatrische Versorgung allerdings unklar ist. Darüber hinaus ist wenig darüber bekannt, wie die betroffenen Stakeholder (Betroffene, psychiatrische Professionelle, Angehörige etc.) die unterschiedlichen Chancen und Risiken bewerten. Auch viele rechtliche Fragen zu Odysseus-Verfügungen sind weitgehend offen.
Vor diesem Hintergrund verfolgt unser interdisziplinäres Symposium das Ziel, Odysseus-Verfügungen aus den Perspektiven der Medizinethik, der Rechtswissenschaft und der (forensischen) Psychiatrie zu diskutieren. Neben rechtswissenschaftlichen Überlegungen werden Ergebnisse aus einer systematischen Literaturübersicht, aus eigenen empirischen Studien und aus der klinischen Praxis berichtet und mit den Teilnehmenden diskutiert.
16:00 Uhr
Odysseus-Verfügungen in der Psychiatrie: eine systematische Literaturübersicht
Astrid Gieselmann, Bochum (Germany)
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Autor:in:
Astrid Gieselmann, Bochum (Germany)
Patientenverfügungen und Behandlungsvereinbarungen werden seit längerem als eine Möglichkeit zur Stärkung der Patientenselbstbestimmung in der Psychiatrie angesehen und zunehmend auch in der Praxis eingesetzt. Eine bislang im deutschsprachigen Raum selten diskutierte Art von Vorausverfügung stellt die sogenannte „Odysseus-Verfügung“ (englisch: self-binding directive) dar. Das Besondere an dieser Verfügung ist, dass Betroffene darin für bestimmte zukünftige Situationen im Voraus selbst bestimmen können, wann sie ein Eingreifen anderer Personen in ihr Handeln wünschen. Insbesondere mit Blick auf Patientinnen und Patienten mit einer bipolar-affektiven Störung wird diese Form der Vorausverfügung in der internationalen Literatur als hilfreich angesehen. In der Literatur werden Chancen und Risiken von Odysseus-Verfügungen aus ethischer Sicht diskutiert.
Im Vortrag sollen die Ergebnisse einer systematischen Literaturrecherche nach PRISMA-Maßstäben vorgestellt werden. In der Literatur diskutierte Vorteile sind unter anderem eine Stärkung der Patientenautonomie, die Verkürzung der Behandlungsdauer, die Verhinderung von Schäden und das langfristige Patientenwohl. Diskutierte Bedenken nehmen Bezug auf Schwierigkeiten bei der Sicherstellung der Einwilligungsfähigkeit zum Zeitpunkt der Abfassung, die Unmöglichkeit des Widerrufs bei Einwilligungsunfähigkeit, die Rechtfertigung von Zwang auf Grundlage einer Odysseus-Verfügung und Möglichkeiten des Missbrauchs des Instruments.
16:10 Uhr
Odysseus-Verfügungen: der rechtliche Rahmen
Tanja Henking, Würzburg (Germany)
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Autor:in:
Tanja Henking, Würzburg (Germany)
Der Vortrag gibt einen kurzen Überblick über die komplexe Fragestellung, ob sog. Odysseus-Verfügungen rechtlich zulässig sind bzw. in welchem Rahmen sie ausgestaltet werden können. Dabei wird auf das Spannungsverhältnis zwischen vorausverfügten selbstbestimmten und aktuellen natürlichen Willen näher eingegangen und dieses in das rechtliche Gefüge der Regelung zur Zwangsbehandlung eingeordnet.
16:20 Uhr
Ethische Herausforderungen beim Einsatz von Odysseus-Verfügungen aus der Sicht von verschiedenen Stakeholdern: vorläufige Ergebnisse aus zwei qualitativ-empirischen Studien
Matthé Scholten, Bochum (Germany)
16:30 Uhr
Odysseus-Verfügungen im Maßregelvollzug: ein Weg aus der Zwangsbehandlung?
Beate Eusterschulte, Haina (Kloster) (Germany)
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Beate Eusterschulte, Haina (Kloster) (Germany)
Zwangsmaßnahmen und deren Verhältnismäßigkeit - insbesondere die Behandlung gegen den Willen - werden in der forensisch-psychiatrischen Fachwelt und in der Öffentlichkeit zunehmend kritisch und kontrovers diskutiert. Einerseits greift die medizinische Zwangsbehandlung eines nicht selbstbestimmungsfähigen Untergebrachten in schwerwiegender Weise in dessen Grundrecht ein, andererseits dient sie der Wiederherstellung der Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit als Voraussetzung für seine Entlassung aus dem Maßregelvollzug. Mehrere Bundesländer haben in ihren Maßregelvollzugsgesetzen vermerkt, dass Patientenverfügungen zu beachten sind.
In der Vitos Klinik für forensische Psychiatrie Haina haben 20 Patienten im Zeitraum von 2015 bis 2020 verfügt, dass sie im Falle einer erneuten akut-psychotischen Episode auch gegen ihren Willen behandelt werden möchten (Odysseus-Verfügung). Auf Wunsch erfolgte eine ausführliche juristische Beratung. Die Einwilligungsfähigkeit/Selbstbestimmungsfähigkeit des Patienten zum Zeitpunkt der Erstellung der Vorausverfügung wurde durch einen Arzt festgestellt.
Gleichwohl bleibt bisher eine Reihe rechtlicher Fragen unbeantwortet. Muss z.B. für einen rechtsgültigen Widerruf Einwilligungsfähigkeit bzw. Selbstbestimmungsfähigkeit vorliegen und wenn ja, wer stellt diese fest? Wie ist vorzugehen, wenn dem selbstbestimmt verfügten Willen in der Akutsituation der natürliche Wille entgegensteht?
Unabhängig von diesen nicht eindeutig beantworteten Fragen liegt die besondere Bedeutung solcher Vorausverfügungen darin, dass die Autonomie des Patienten gestärkt und gleichzeitig die Dauer der unbehandelten akut-psychotischen Phase verkürzt wird, da auf zeitaufwändige und langwierige Antragsverfahren verzichtet und mit der Behandlung umgehend begonnen werden kann. Darüber hinaus fördert die Etablierung von Odysseus-Verfügungen die Auseinandersetzung der Institution mit Fragen der Patientenautonomie sowie der Reduzierung und Vermeidung von Zwangsmaßnahmen.