Psychische Störungen werden häufig nach Syndromen, Diagnosen und Dysfunktionen geordnet. Bei der Klassifikation von Erkrankungen werden diese Unterteilungen auch kombiniert. Beispielsweise wird die Diagnose schizoaffektive Störungen nach Syndromen unterteilt, bei dem Begriff bipolare Depression fehlt eine klare Hierarchie. Der 1. Vortrag beschäftigt sich mit der Historie der drei Kriterien, der Begriffsbildung sowie Gemeinsamkeiten und Unterschieden.
Therapien werden an Patientenkollektiven validiert, die meist entsprechend der vorherrschenden Klassifikation zusammengesetzt sind. Damit beeinflusst die Einteilung der Krankheitsbilder wesentlich die Beurteilung der Behandlungen. Umgekehrt bestimmen Therapiemethoden mit wachsender kollektiver Erfahrung die Sichtweise auf die Klassifikation von Erkrankungen. So hat die Psychopharmakologie über viele Jahre eine Syndrom-orientierte Betrachtungsweise von Störungen gefördert. Gilt das heute noch? Über die psychiatrischen Therapien hinweg scheint eine Diagnose-orientierte Validierung zu dominieren.
Im 2. - 4. Vortrag werden für Psychopharmakologie, Psychotherapie und Elektrokonvulsionstherapie die aus heutiger Sicht kanonischen Krankheitsentitäten dargestellt. In der Psychotherapie haben Diagnosen zunächst eine eher untergeordnete Rolle gespielt gegenüber frühen Familienkonstellationen, der Introspektionsfähigkeit und der Kompatibilität von Patient und Behandler. Mit der zunehmenden Bedeutung der Verhaltenstherapie hat sich diese Sichtweise erheblich geändert. Inzwischen wächst die Anzahl der Verfahren dramatisch an. Welche Patientenmerkmale sind derzeit und werden in der Zukunft wichtig? Bei der Elektrokonvulsionstherapie ist das syndromale Indikationsgebiet sehr breit. Sie wirkt antipsychotisch, antidepressiv, antimanisch, antikonvulsiv, antisuizidal, stimmungsstabilisierend und antikataton. Bisher sind die Gründe dafür nur ungenügend bekannt. Eine Syndrom-orientierte Sichtweise scheint hier eher zu dominieren.
17:30 Uhr
Symptome, Diagnosen, Dysfunktionen: zur Klassifikation psychischer Störungen
Henning Saß, Aachen (Germany)
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Autor:in:
Henning Saß, Aachen (Germany)
Die Diagnose stellt eine wesentliche Grundlage allen ärztlichen Denkens und Handelns sowie der wissenschaftlichen Verständigung dar. Nach ihr richten sich nahezu alle im Zusammenhang mit einer möglichen Erkrankung zu treffenden Entscheidungen. Auch die Forschung orientiert sich trotz einiger alternativen Vorschläge weiterhin an den etablierten Diagnoseschemata, die auf der Beschreibung von typischen Krankheitsmerkmalen beruhen.
Dabei ist definitorisch zwischen objektiven und subjektiven Symptomen zu unterscheiden. Erstere, auch klinische Zeichen genannt, sind die von außen beobachtbaren Merkmalen, letztere dagegen die vom Kranken empfundenen Beschwerden. In der angloamerikanischen Literatur entspricht diese Differenzierung der Formel der “signs and symptoms“. Typische Kombinationen von Symptomen werden als Syndrome oder Symptomverbünde zusammengefasst. Der Begriff der Dysfunktion dient zur Bezeichnung einer fehlenden oder mangelhaften Funktion psychischer, somatischer oder sozialer Art.
Die Entwicklung der operationalen Klassifikationssysteme war ein Meilenstein beim Bemühen um eine erhöhte Zuverlässigkeit des diagnostischen Vorgehens und der wissenschaftlichen Kommunikation. Zu den wichtigen Neuerungen bei den Revisionen des DSM- und des ICD-Systems gehören neben Ausweitungen und Spezifizierungen der diagnostischen Einheiten der Einstieg in eine mehr dimensionale anstelle der gewohnten typologisch-kategorialen Erfassung psychischer Störungen.
Allerdings stellen die Diagnosen unseres Fachgebietes lediglich Konventionen dar. Sie entsprechen keinen Sachverhalten der Natur, sondern lediglich dem aktuellen Sprachgebrauch bei der Verständigung über psychische Störungen. Gefahren liegen in einer Verkürzung des diagnostischen Prozesses auf das Abprüfen von Merkmalskatalogen und einer damit verbundenen Deformierung der Arzt-Patientenbeziehung.
17:42 Uhr
Was behandeln wir mit Psychopharmaka: Diagnose oder Syndrom?
Gerhard Gründer, Mannheim (Germany)
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Gerhard Gründer, Mannheim (Germany)
Seit der Einführung der großen Psychopharmaka-Gruppen in den 1950er und 1960er Jahren gehen wir davon aus, dass wir mit Antidepressiva, Antipsychotika und Tranquilizern diagnosespezifische molekulare Dysfunktionen, die Depressionen, Schizophrenien oder Angsterkrankungen vermeintlich zugrunde liegen, behandeln. Nachdem Versuche, bestimmten Diagnosen eine definierte molekulare Pathologie und damit eine spezifische Therapie zuzuordnen, gescheitert sind, versuchte man im nächsten Schritt, eine Pharmakotherapie syndromal zu orientieren, d.h. einem klinischen Syndrom eine jeweils individuelle Pharmakotherapie zuzuschreiben, die entsprechend auch an die jeweilige Pathophysiologie angepasst wäre. Störungen, bei denen Serotoninrückaufnahmehemmer (SSRI) eine klinische Wirksamkeit entfalten, wurden so zu „Serotonin-Dysfunktionssyndromen“. Die nahezu uferlose Gruppe von Störungen, bei denen bestimmte Substanzgruppen wirksam sind (SSRI beispielsweise bei Depressionen, Angststörungen, Zwangsstörungen, PTSD, prämenstruellem Syndrom u.v.m.), macht dieses Konzept jedoch beliebig. Die Londoner Psychiaterin Joanna Moncrieff hat daher vorgeschlagen, das skizzierte „krankheitszentrierte“ Modell der Wirkung von Psychopharmaka durch ein „substanzzentriertes“ Modell zu ersetzen. Danach versetzen Psychopharmaka das Gehirn unspezifisch in einen anderen Funktionszustand. Antidepressiva beispielsweise hemmen die Sensitivität der Amygdala und reduzieren damit krankheitsunspezifisch negative Emotionen. Das Konzept, das in Teilen auch den gegenwärtigen Stillstand der psychopharmakologischen Forschung erklären könnte, wird an Beispielen erläutert.
17:54 Uhr
Was behandeln wir mit Psychotherapie: Diagnosen oder Dysfunktionen?
Sabine C. Herpertz, Heidelberg (Germany)
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Autor:in:
Sabine C. Herpertz, Heidelberg (Germany)
Was behandeln wir mit Psychotherapie: Diagnosen oder Dysfunktionen?
Störungsspezifische Psychotherapien waren über mehrere Dekaden hinweg der Fokus der Psychotherapieforschung. Für nahezu alle psychiatrischen Diagnosen wurden störungsspezifische Manuale entwickelt und auf Wirksamkeit getestet. Gleichzeitig wuchs die empirische Evidenz, dass der Schweregrad einer Erkrankung und der damit verbundene Hilfebedarf weniger durch eine Diagnose als durch das Ausmaß an Funktionsbeeinträchtigungen angezeigt wird und sich jene deshalb vorzugsweise als Targets für psychotherapeutische Interventionen eignen. Dieser Ansatz ist auch konsistent zum mechanistischen RDoC-Ansatz, der von unterschiedlichen Schweregraden der Dysfunktion in psychologischen und biologischen Systemen ausgeht: beispielsweise sind strukturelle und funktionelle Normabweichungen in Hirnnetzwerken nicht mit spezifischen Diagnosen sondern spezifischen Funktionsbeeinträchtigungen assoziiert, die transdiagnostische Bedeutung haben. Schließlich werden Therapieansätze, die auf die Verbesserung von Dysfunktionen abzielen Patientenbedürfnissen besser gerecht. Sie können Anwendung bei den vielen Patient*Innen finden, die an komorbiden Krankheitszuständen leiden und ihre dimensionale Struktur eignet sich für die Etablierung stärker individualisierter Therapieprogramme, wie sie als Herausforderung der modernen Medizin gesehen werden.