Schmerz ist beim Menschen nicht de novo entstanden; vielmehr sind Funktionen und Mechanismen des Schmerzes ein evolutives Produkt. Während die Modulation des Schmerzes bei den Menschen seit langem eine medizinische Priorität ist und Versuchstiere eine große Rolle bei den präklinischen Bemühungen zur Entwicklung neuer Analgetika spielen, ist es dennoch bemerkenswert, wie wenig über die Evolution des Schmerzes per se und insbesondere dessen zugrundeliegender Konzepte und deren Konsequenzen für das klinische Handeln bekannt ist. Ein möglicher Erklärungsansatz besteht darin, dass sowohl präklinische als auch klinisch orientierte Schmerzforscher*innen in der Vergangenheit nur wenig Interesse an den evolutionären Konzepten des Schmerzes hatten. Jedoch zeigt sich in der aktuellen Forschung, dass nicht nur Tiere, sondern auch Menschen, trotz unserer weiter fortschreitenden Zivilisation immer noch diesen grundlegenden Konzepten unterliegen. Aber welche evolutionären Konzepte sind dies und inwieweit können sie den Schmerz positiv, aber auch negativ modulieren? Um dies zu beantworten, muss zunächst identifiziert werden, inwieweit die Evolution, schmerzrelevante Mechanismen und Verhaltensweisen geformt hat und welche evolutionär adaptiven, neutralen und maladaptiven Aspekte des Schmerzes existieren. Diese Aspekte spiegeln die enorme Komplexität des schmerzbedingten Verhaltens, insbesondere des komplexen Sozialverhaltens, und der Schmerzsubstrate wider, die sowohl neuronale als auch nicht-neuronale Zellen einbeziehen.
Angesichts unseres begrenzten Wissens über die Evolution des Schmerzes stellen sich besonders wichtige Fragen nach einer evolutionären Anpassungsfähigkeit - oder deren Fehlen - der verschiedenen Schmerzformen. Einige dieser Schmerzformen, wie z.B. chronische Schmerzen können mögliche Fehlanpassungen zwischen evolvierten Schmerzsystemen und der modernen Umwelt sein oder sie repräsentieren Kompromisse von adaptiven Prozessen. Es gibt jedoch auch plausible Argumente dafür, dass die Evolution bei verschiedenen Schmerzformen Mechanismen ausgewählt hat, die die schmerzbezogene Hypervigilanz als Anpassung an besonders gefährliche Umgebungen und an eine erhöhte Verletzlichkeit, die lange nach einer entstellenden Verletzung bestehen bleibt, aufrechterhalten können. Die Identifizierung von evolutionär adaptiven und maladaptiven Merkmalen des Schmerzverhaltens in Bezug auf Umweltvariablen (einschließlich sozialer Variablen) und den Zustand des Organismus erfordert möglicherweise Untersuchungsrahmen und experimentelle Paradigmen, die für das Gebiet der Schmerzforschung neu sind. In diesem Symposium werden wir anhand aktueller Erkenntnisse auf dem Gebiert der „evolutionären“ Schmerzmedizin, sowohl die theoretischen Konzepte, als auch deren mögliche Bedeutung für die Forschung und die klinische Anwendung aufzeigen.