Dass Menschen aus prekären sozialen Lebensverhältnissen psychisch besonders stark belastet sind und besonderer Aufmerksamkeit bedürfen, ist Grundlage aktueller sozialpsychiatrischer Forschung. Mittlerweile haben sich wissenschaftliche Verfahren etabliert, die eine Diversifizierung der postmodernen Gesellschaft in sogenannte „Milieus“ ermöglichen. Das vom Sinus-Institut etablierte Modell, das die Milieu-Zuweisung anhand eines standardisierten Fragebogens vornimmt, wird u.a. von Parteien, Verbänden, aber auch der Wirtschaft genutzt, um entsprechende Gruppen zu identifizieren. Mit Blick auf medizinische Fragestellungen wurde deutlich, dass sich soziale Milieus erheblich hinsichtlich ihrer Erwartungen und Nutzung alternativer medizinischer Angebote unterscheiden.
Im Symposium werden erstmals aktuelle, in unterschiedlichen stationären psychiatrischen und psychosomatischen Settings (Versorgungspsychiatrie, fachklinische Psychosomatik und psychosomatische Rehabilitation) erhobene Daten vorgestellt und vergleichend diskutiert. Versorgungstechnisch stellt sich die Frage, ob die in den unterschiedlichen Settings behandelten PatientInnen jeweils ein „Abbild“ der Bevölkerung darstellen und falls nein, welche Selektionskriterien zugrunde liegen, auch mit Blick darauf, wie unterversorgte Gruppen ggf. besser erreicht werden. Konzeptuell geht es darum, ob bzw. inwieweit die Milieuzugehörigkeit die Wahrnehmung und Zuordnung der jeweiligen Symptomatik in subjektive Störungsmodelle determiniert. Und nicht zuletzt: Ist Milieuzugehörigkeit ein Prädiktor für den Erfolg oder Misserfolg der jeweiligen Behandlung? Falls ja, inwieweit lassen sich an umschriebenen Patientengruppen gewonnene Therapieergebnisse generalisieren – sollte Therapie milieuspezifisch konzipiert werden?
Zeigen sich Unterschiede in Symptomatik und Therapieerfolg zwischen den Sinus-Milieus in der psychosomatischen Rehabilitation?
Henrika Kleineberg-Massuthe, Berlin (Germany)
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Autor:innen:
Henrika Kleineberg-Massuthe, Berlin (Germany)
Lilia Papst, Berlin (Germany)
Markus Bassler, Clausthal-Zellerfeld (Germany)
Volker Köllner, Berlin (Germany)
Patient:innen der psychosomatischen Rehabilitation sind unterschiedlich schwer beeinträchtigt und profitieren ungleich von der Behandlung. Ungeklärt ist der Einfluss des sozialen Milieus hierauf. Mit dem Sinus-Modell, das über soziale Lage und Grundorientierung zehn Milieus für die BRD beschreibt, wurden Unterschiede in Symptomschwere und Therapieerfolg am Merkmal Depressivität analysiert.
In zwei psychosomatischen Reha-Zentren (je N = 1000) wurden zu Rehabilitationsbeginn (T0) der Sinus-Milieuindikator Deutschland 10/2018 (standardisierter Fragebogen) sowie zu Beginn und Entlassung (T1) der Fragebogen zur Erfassung der Schwere einer depressiven Symptomatik – Beck-Depressionsinventar II (BDI-II, vollständige Daten für N = 1832) erhoben. Mit IBM SPSS Statistics 25 wurde eine Mixed ANOVA durchgeführt.
Die Sinus-Milieus waren unterschiedlich stark in den Reha-Zentren vertreten. Es zeigte sich eine statistisch signifikante Interaktion zwischen Testzeitpunkt und Milieuzugehörigkeit, d.h. Depressivität bildete sich milieubedingt von T0 zu T1 unterschiedlich stark zurück (F (9, 1822) = 2.50, p = 0.008, η²part = 0.01, schwacher Effekt). Es wurde ein signifikanter Haupteffekt für Zeit (F (1, 1822) = 1589.17, p < 0.001, η²part = 0.47) und Milieu (F (9, 1822) = 34.06, p < 0.001, η²part = 0.14) gefunden.
Das soziale Milieu klärte einen signifikanten Teil der Unterschiede in der depressiven Belastung und deren Verbesserung auf. Sozioökonomisch benachteiligte Milieus wiesen eine höhere Belastung zu Rehabilitationsbeginn und -ende auf. Alle Milieus profitierten zwar von der Reha, jedoch unterschiedlich stark. So konnten Patient:innen benachteiligter Milieus nicht depressionsfrei entlassen werden. Diese Milieus sollten in Reha-Planung und Behandlung besonders berücksichtigt werden.
Soziale Sinus-Milieus von stationär in einer Akutklinik behandelten psychiatrischen Patienten: Hat die soziale Milieuzugehörigkeit Einfluss auf Patienten-Selektion und Therapieverlauf?
Sabine Oymanns, Neuss (Germany)
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Autor:innen:
Sabine Oymanns, Neuss (Germany)
Ulrich Sprick, Neuss (Germany)
Martin Köhne, Neuss (Germany)
Das Alexius/Josef Krankenhaus in Neuss steht als Pflichtversorger für ca. 500.000 Einwohner des Rhein-Kreis Neuss bereit. Neben der Grundversorgung als Allgemeinpsychiatrie werden sowohl für die ländlichen Gebiete gemeindenahe Angebote, als auch überregionale Spezialangebote bereitgehalten.
Grundlegend für die Entwicklung besonderer Angebote zur Unterstützung unterschiedlichster PatientInnen ist dabei die Kenntnis der Besonderheiten, Bedürfnisse der Zielgruppen, sowie wie deren Lebenswelt und Weltzugänge. Aus diesem Grund entschied sich die Klinikleitung zu einer Befragung der PatientInnen mit Unterstützung des SINUS Institutes in Heidelberg.
Im Erhebungszeitraum 2019/2020 erhielten psychiatrische PatientInnen sowie TherapeutInnen der Klinik die Möglichkeit an der Befragung teilzunehmen. Die Ergebnisse werden darauf hin analysiert, welche PatientInnen und TherapeutInnen der unterschiedlichen Bereiche sich an der Umfrage beteiligten. Ein zweiter Aspekt der Auswertung wirft ein Schlaglicht auf das Spannungsfeld der Erwartungen sozialer Milieus an das Gesundheitswesen und geht in diesem Zusammenhang den Spuren der Teilnehmenden mit dem Fokus der zuvor ausdifferenzierten Schwerpunkte der Behandlungsbereiche nach.
Das Datenmaterial eröffnet Fragen, die am Ende des Beitrags stehen. Hierbei ist der Zugang durch den interdisziplinären Bezug der Sozialforschung geprägt. Es eröffnet sich dabei die Perspektive, den multiprofessionellen Kooperationen und Teams auch im Hinblick auf die milieuspezifischen Zugänge zu Gesundheit, Krankheit und Genesung zu eröffnen.
Aus Sicht der Autoren stellen diese Zugänge bei der Konzeption neuer Versorgungsangebote perspektivisch eine wertvolle Ressource dar. Nicht zuletzt durch den demographischen Wandel ergeben sich zunehmend Aspekte, durch die auch Allgemeinpsychiatrien zukünftig vor veränderten Rahmenbedingungen stehen.
Fragebögen funktionieren wie Blutdruckmessgeräte? Zur Interaktion sozialer (Sinus-)Milieus, Depressions-Scores und subjektiver Störungsmodelle
Andreas Hillert, Prien am Chiemsee (Germany)
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Autor:innen:
Andreas Hillert, Prien am Chiemsee (Germany)
Ulrich Stattrop, Prien am Chiemsee (Germany)
A. Meule, (Germany)
Heide Möller-Slawinski, Heidelberg (Germany)
Psychometrische Fragebögen zur Messung und quantitativen Beurteilung z.B. der depressiven Symptomatik von Patienten sind – analog Blutdruckmessgeräten – in der Behandlung und Erforschung affektiver Störungen etabliert. Damit erhobene Befunde werden als grundsätzlich valide gehandhabt. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive lassen sich innerhalb der Gesellschaft unterschiedliche Gruppen „Gleichgesinnter“ bzw. soziale Milieus unterscheiden. Der vom SINUS-Institut erarbeitete Ansatz ist im klinischen Setting praktikabel. Ausgehend hiervon wurden konsekutiv aufgrund depressiver Störungen aufgenommene Patienten einer psychosomatischen Akutklinik den jeweiligen SINUS-Milieus zugeordnet und mit deren Depressions-Scores (PHQ) sowie subjektiven Störungsmodellen („Burnout“- bzw. „ausgebrannt sein“-Identifikation) abgeglichen. Patienten des Sozialökologischen Milieu waren in der Klinik deutlich überrepräsentiert. Bezogen auf die Fragestellung zeigte sich, dass nicht nur der Depressionsscore, sondern auch das Verhältnis von diesem und den subjektiven Störungsmodellen Milieu-abhängig ist. Sich primär als depressiv erlebende (Prekäre-, Adaptiv-pragmatische, Hedonistische und Traditionelle-)Milieus stehen Milieus gegenüber, in denen die depressive Symptomatik primär aus der Störungsmodell-Perspektive wahrgenommen und dabei als weniger stark bewertet wird (u.a. Liberal-intellektuelles, Konservativ-etabliertes und Sozialökologisches Milieu). Milieu-Zugehörigkeit ist somit ein die Symptomwahrnehmung und damit die in psychometrischen Fragebögen angegeben Werte relevant beeinflussender Faktor. Dies sollte in der weiteren klinischen Forschung, etwa wenn es um die Generalisierung von Studienergebnissen geht, Berücksichtigung finden.