Raum:
Saal London 2
Topic:
Wissenschaftliches Programm
Topic 26: Ethik, Philosophie und Spiritualität
Format:
Symposium
Dauer:
90 Minuten
Besonderheiten:
Q&A-Funktion
In aktuellen ethischen Diskussionen in der Psychiatrie werden häufig historische Bezüge hergestellt. Dies geschieht zum Teil auch, um eigene ethische Positionen zu untermauern. Prominente Beispiele hierfür sind die Sterbehilfedebatte oder Diskussionen über die Zulässigkeit der Durchführung von Elektrokrampftherapie oder von Zwangsmaßnahmen.
Auf einer theoretischen Ebene ist dabei jedoch häufig nicht geklärt, welcher normative Stellenwert historischen Bezügen für gegenwärtige Diskussionen zukommt, d.h. ob und inwiefern historische Argumentationen für aktuelle ethische Debatten nützlich sind. Dieser Frage möchte dieses Symposium nachgehen.
In einem grundlegenden Vortrag wird Heiner Fangerau zunächst das Verhältnis von Geschichte und Ethik in der Medizin im Allgemeinen und der Psychiatrie im Speziellen untersuchen und Implikationen für aktuelle ethische Debatten diskutieren.
Chantal Marazia wird den Stellenwert der historischen Perspektive für aktuelle Debatten anhand der Entwicklung des Maßregelvollzugs in der Bundesrepublik und deren Verschränkung mit der Psychiatriereform beleuchten.
Daran anschließend wird Anna-Karina Schomburg die Forschungsfrage diskutieren, inwiefern die Bearbeitung von historischen Quellen einer forensisch-psychiatrischen Klinik einen Beitrag zu ethischen Diskussionen in der Psychiatrie leisten kann.
Abschließend wird Michael Seidel die wenigen und auffällig zurückhaltenden Rückblicke Karl Bonhoeffers auf die Zwangssterilisierung und die Krankenmorde während der NS-Zeit skizzieren und deren implizite und explizite ethische Aspekte analysieren.
abgesagt: Ödipus und Elektra? Zum Verhältnis zwischen Geschichte und Ethik der Medizin
abgesagt: Gefährlich krank: der Maßregelvollzug in der BRD (1960–2000) im Feld gegenläufiger Strömungen
abgesagt: Was kann die Auswertung historischer Quellen der Forensischen Psychiatrie Moringen zu medizinethischen Diskussionen beitragen?
abgesagt: Karl Bonhoeffers Rückblicke auf die NS-Psychiatrieverbrechen
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Karl Bonhoeffer, von 1912 bis 1938 Direktor der Klinik für Psychische und Nervenkrankheiten der Charité, war einer der prominentesten deutschen Psychiater der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert. Seine Rolle und sein Verhalten in der Nazi-Zeit waren und sind immer noch Gegenstand von Auseinandersetzungen. Von großem Interesse ist selbstverständlich, wie er sich nach 1954 äußerte.
Obwohl selbst ein erklärter Gegner der Zwangssterilisierung, wollte er – so seine späteren Erklärungen - durch erbbiologisch-psychiatrische Kurse und Publikationen, durch Mitwirkung an der Begutachtung in Erbgesundheitsverfahren mäßigend auf die Umsetzung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses von 1933 einwirken.
In seiner Einführung zur „Zeitschrift für Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie“ (1949) wies er darauf hin, die nationalsozialistische Auffassung, die psychiatrische Beschäftigung mit Unheilbaren und Arbeitsunfähigen sei Humanitätsduselei, habe in der systematischen Tötung von Tausenden von Geisteskranken ihre letzte Auswirkung gefunden. Doch er sah es als unzutreffende Verallgemeinerung an, „eine solche Entartung des ärztlichen Denkens einzelner fanatisierter führender nationalsozialistischer Ärzte dem deutschen Psychiater generell zu unterstellen.“
Im „Ein Rückblick auf die Auswirkungen und die Handhabung des nationalsozialistischen Sterilisationsgesetzes“ (1949) behauptete er, dem Zwangssterilisierungsgesetz hätten soziale, kriminalpolitische und rassepolitische Gesichtspunkte fast völlig gefehlt. In seinen Lebenserinnerungen begründete er seine Mitwirkung an der Umsetzung des NS-Gesetzes.
Bonhoeffers zurückhaltende öffentlichen Äußerungen verwundern angesichts der großen Opfer seiner Familie im aktiven Widerstand gegen das Nazi-Regime. Bonhoeffers Äußerungen haben jedoch dazu beigetragen, dass sich alsbald das Narrativ etablierte, nur wenige fanatische nationalsozialistisch gesinnte Ärzte hätten die Verbrechen zu verantworten.