Die Einstufung von Menschen mit psychischen Erkrankungen im Rahmen des Schwerbehin-dertenrechts und des SER orientiert sich an den Vorgaben der versorgungsmedizinischen Verordnung (VersMedV). Diese bildet das Wissen über und die Bewertung von psychischen Erkrankungen aus den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ab. Neue Ansätze zur Begutachtung von Behinderungseigenschaften, basierend auf der umfassenden Systematik der ICF und ihrer Fokussierung auf die soziale Teilhabe werden unter Experten seit Jahren diskutiert. Ausgefeilte Begutachtungskonzepte liegen vor, haben jedoch bislang keinen Eingang in das politische Handeln gefunden. Das Symposion bietet ein Forum zur dringend notwendigen fachlichen Diskussion der Begutachtung im Schwerbehindertenrecht und SER und weist hier anhand ausgewählter Diagnosegruppen neue Wege. Erfasst werden die Fachgebiete der Erwachsenenpsychiatrie, der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie der Psychosomatik.
Die ICF-Basierung in der Beurteilung von Menschen mit Schizophrenie oder Abhängigkeitserkrankungen
Gerhard Längle, Zwiefalten (Germany)
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Autor:in:
Gerhard Längle, Zwiefalten (Germany)
Hintergrund:
Die Begutachtung nach dem Schwerbehindertenrecht (gemäß VersMedV) von Personen, die an einer Schizophrenie oder an einer Suchterkrankung leiden, basiert auf jahrzehntealten Krankheits- und Behinderungskonzepten. Moderne, an internationalen Kriterien orientier-te Begutachtungskriterien wurden von Expertengruppen erarbeitet, finden jedoch keinen Eingang in die Praxis der politischen Gesetzgebung und Verordnung.
Fragestellung:
Wie kann eine zielgerichtete, auf die Alltagswelt des/der Einzelnen bezogene Einstufung des GdB, orientiert an den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen gelingen?
Methode:
Als grundsätzliche Orientierung wurde die Systematik der International Classification of Functioning (ICF) der WHO ausgewählt. Darauf aufbauend wurden in den diagnosespezifi-schen Expertengruppen nach einem einheitlichem System Kriterien für die Einstufung des Grades der Behinderung festgelegt und in übergreifenden Fachgruppen konsentiert.
Ergebnisse:
Das Bio-Psycho-Soziale Krankheitsmodell der Psychiatrie ist der ICF-Systematik sehr nahe. Die Teilhabe als zentraler Zielpunkt findet eine Entsprechung in modernen psychiatrischen Konzepten mit der Fokusierung auf die Alltagswelt der Erkrankten. Für die Diagnosebe-reiche Schizophrenie sowie Suchterkrankungen wurden komplett neue, ICF-basierte Krite-rien aufgestellt, die im Alltag der Begutachtungspraxis leicht umsetzbar sind.
Diskussion und Schussfolgerung:
Die vorgelegten Begutachtungskriterien bieten für begutachtende Ärzt*innen eine gute Basis zur sachgerechten Einschätzung des GdB. Die Nähe zu Begutachtungs- und Hilfepla-nungsinstrumenten des BTHG, ebenfalls orientiert an den Domänen des ICF, ermöglicht den Überstieg vom Schwerbehindertenrecht in die Hilfeplanung der sozialen Rehabilitati-on. Eine Umsetzung in die entsprechenden Verordnungen steht aufgrund politischer Hin-dernisse noch aus. Dies ist aus fachlicher Sicht und insbesondere aus Sicht der betroffenen Patient*innen äußerst beklagenswert.
Die Begutachtung von Kindern und Jugendlichen sowie bei Intelligenzminderung
Renate Schepker, Ravensburg (Germany)
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Autor:in:
Renate Schepker, Ravensburg (Germany)
Für Kinder und Jugendliche sind im der Begutachtung nach dem Schwerbehindertenrecht und im SER im Gegensatz zu Erwachsenen Entwicklungsaspekte und die jeweilige soziale Realität zu berücksichtigen.
Nach der ICF-CY sind andere Lebensbereiche mit unterschiedlichen Rollen in Familie, Kindergarten, Schule und Ausbildung, je nach Alter und Entwicklungsstand unterschiedlich gewichtet, zu berücksichtigen. Auch dem Nicht-Absolvieren durchschnittlich erwartbarer Entwicklungsschritte kann eine große Bedeutung zukommen. Des Weiteren können je nach Störungsbild und vorhandener Evidenz andere zeitliche Vorgaben als für Erwachsene für zu erwartende Besserungen zugrunde gelegt werden. Anhand einiger Beispiele aus dem Spektrum der psychischen Störungen, insbesondere der Intelligenzminderungen, werden die Grundzüge einer modernen Einschätzung der Teilhabebeeinträchtigung im Rahmen der Begutachtung diskutiert.
Affektive Störungen und Persönlichkeitsstörungen: Begutachtung der Behinderteneigenschaften auf Basis der ICF
Walter Hewer, Göppingen (Germany)
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Walter Hewer, Göppingen (Germany)
Hintergrund: Affektive Störungen mit ihrer nach ICD-10/11 definierten Symptomatologie und sehr variablen, häufig lang andauernden Verläufen sind ebenso wie tief verwurzelte, dysfunktionale und anhaltende Verhaltensmuster bei den verschiedenen Persönlichkeitsstörungen mit u. U. weitreichenden Auswirkungen auf die soziale Teilhabe verbunden, bei klaren Zusammenhängen zwischen Ausprägungsgrad des Störungsbildes und Ausmaß der Teilhabebeeinträchtigung.
Methode: Im Expertenkonsens wurden für die auf einer strukturierten psychopathologischen Befunderhebung beruhenden und gemäß ICD-10/11 definierten Störungen basierend auf der Systematik der ICF Empfehlungen für die Einstufung von Menschen mit den genannten Erkrankungen erarbeitet.
Ergebnisse: Bei affektiven Störungen (singuläre/rezidivierende depressive Episoden, bipolare Störungen, monopolare Manien) ist, abhängig von Schweregrad und zeitlichem Verlauf, von stark variierenden Graden einer Teilhabebeeinträchtigung auszugehen. Dies bildet sich in differenzierten Empfehlungen für den GdB in einem Bereich zwischen 10 und 100 ab. Für Dysthymien und hypomanische Episoden wird keine GdB-Empfehlung ausgesprochen. Die Teilhabebeeinträchtigung bei Persönlichkeitsstörungen variiert ebenfalls sehr stark, abhängig u. a. von verhaltensbezogenen Funktionen wie Impulskontrolle, Stimmungsregulation oder interpersonelle und soziale Beziehungsgestaltung. Dem entspricht, dass sich der empfohlene GdB bei signifikanter Teilhabebeeinträchtigung in einem Bereich zwischen 10 und 80 (ggf. auch noch darüber) bewegt.
Diskussion: Die sozialrechtliche Begutachtung von Menschen mit affektiven und Persönlichkeitsstörungen basiert auf differenzierter Befunderhebung und einer gemäß definierter Kriterien gestellten Diagnose. Soweit es in einem zeitlich eng getakteten Begutachtungsprozess möglich ist, sollten individuell bedeutsame Merkmale, wie Komorbiditäten oder vorhandene Ressourcen, in die Festlegung des GdB mit eingehen.
ICF-basierte Beurteilung bei psychosomatischen Erkrankungen und PTBS
Ann-Christin Schulz, Frankfurt am Main (Germany)
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Autor:in:
Ann-Christin Schulz, Frankfurt am Main (Germany)
Gerade die Begutachtungspraxis von posttraumatischen Belastungsstörungen ist gekennzeichnet von häufig konträren Gutachten und Beurteilungen, was die Entschädigungsverfahren in die Länge zieht und letztlich zu Lasten der Behandlung und Wiedereingliederung der Geschädigten geht. Diskutiert werden gutachtliche Probleme aufgrund diagnostischer Unklarheiten der Kriterien von PTBS und komplexer PTBS, fehlender Operationalisierungen des Schweregrads, sowie spezifische Probleme in der gutachtlichen Beziehungsgestaltung. Orientiert an den obligaten Kriterien des kommenden ICD-11 (Wiedererleben, Vermeidung, anhaltende Bedrohungswahrnehmung) wird – in Fortführung der Empfehlungen der gültigen AWMF -Leitlinie Gutachtliche Untersuchung bei psychischen und psychosomatischen Störungen und die Kriterien der Unterarbeitsgruppe Psychische Störungen beim Beirat Versorgungsmedizin des BMAS- vorgeschlagen, die Teilhabebeeinträchtigung durch Erfassung von Funktionsstörungen und Schädigungsfolgen nach den Kriterien des ICF zu bestimmen.