Die forensisch-psychiatrische Versorgung im deutschsprachigen Raum hat sich in den vergangenen Jahren entwickelt. Partizipative Behandlungsansätze erhalten zunehmend Bedeutung. Dennoch bleibt die forensische Psychiatrie gekennzeichnet von den Merkmalen und Auswirkungen der „totalen Institution“ (Goffmann, 1973), die Untergebrachten sind stigmatisiert als psychisch kranke, für die Gesellschaft gefährliche, Rechtsbrecher. Die Unterbringung ist unfreiwillig und bedeutet Freiheitsbeschränkung über einen nicht konkret kalkulierbaren Zeitraum. Der Maßregel-/Maßnahmenvollzug befindet sich im Spannungsfeld zwischen den hoheitlichen Aufgaben Besserung und Sicherung.
Wie kann den Untergebrachten in diesem Rahmen Hoffnung vermittelt werden, dass Genesung und Gefährlichkeitsreduktion möglich sind? Dass ein zufriedenstellendes, sinnerfülltes Leben in der Gesellschaft (wieder) erreichbar ist?
Die strukturellen Rahmenbedingungen erfordern einen kreativen Umgang und gestalterisches Denken, um eine Umgebung zu schaffen, die es Untergebrachten und Mitarbeitenden gleichermaßen erlaubt, ein größtmögliches Maß an Normalität zu leben und zugleich Sicherheit zu bieten. Die „totale Institution“ gilt es so zu gestalten, dass den Untergebrachten Rehabilitation, Krankheitsbewältigung und Gefährlichkeitsreduktion ermöglicht wird bzw. ein Leben in Würde und Hoffnung (Trost, 2018). Recovery, ein Ansatz aus der Betroffenenbewegung, der individuelle Krankheitsbewältigung, Eigenverantwortung und Hoffnung fokussiert, bietet den Rahmen für eine derartige Ausgestaltung des Maßregel-/Maßnahmenvollzugs, ein Fundament für die Beziehungsgestaltung und einen Bezugsrahmen für eine professionelle Grundhaltung.
Wie kann der Recovery-Ansatz in die Praxis des Maßregel-/Maßnahmenvollzug transferiert werden?
Recoveryorientierte Modelle und Konzepte wie z.B. das Good-Lives-Modell (Willis & Ward 2013), das Desistance-Konzept (Walsh 2016), das Safewards-Modell, die Adherencetherapie oder der Einbezug von Ressourcen und Schutzfaktoren im Risikomanagement finden zunehmend Verbreitung. Sie bedürfen jedoch der Modifikation für diesen Versorgungsbereich und die jeweiligen Behandlungsphasen (Winterberg & Needham, 2010). Erste praktische Erfahrungen zeigen gute Kombinationsmöglichkeiten der Phasen des Recoveryprozesses (Amering & Schmolke, 2012) und der Unterbringung (Bay, Wiemann & Schoppmann 2019).
Ablauf und Gestaltung
Im Rahmen des Workshops wird der Recovery-Ansatz mit seinen Chancen für die forensisch-psychiatrische Versorgung vorgestellt, Risiken und Limitationen werden diskutiert. Recoveryorientierte Modelle und Konzepte als handlungsorientierte Leitfäden und ihre praktische Umsetzung werden erörtert und Implementierungsmöglichkeiten erarbeitet.
Zielgruppe: Forensisch-psychiatrisch Tätige & Interessierte
Lernziele
Einblicke in das Thema „Recovery in der forensisch-psychiatrischen Versorgung“.
Recoveryorientierte Modelle/Methoden, deren Chancen und Limitationen kennenlernen, diskutieren.
Möglichkeiten zur Unterstützung von Recovery erkennen, ausarbeiten, Theorie-Praxistransfer herstellen mit Bezug auf die Phasen des Recoveryprozesses und der Unterbringung.
Literatur
Amering M, Schmolke M (2012). Recovery. Das Ende der Unheilbarkeit. Köln: Psychiatrie-Verlag.
Bay A., Wiemann A, Schoppmann S (2019). Recovery in der forensischen Psychiatrie. In: G. Zuaboni, Ch. Burr, A. Winter & M. Schulz (Hrsg.) Recovery und psychische Gesundheit. Grundlagen und Praxisprojekte.(S. 228 – 241) Köln: Psychiatrie-Verlag.
Goffmann I (1973). Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Trost A (2018). Forensische Psychiatrie als Fachbereich der Gesundheits- und Krankenpflege. In: F. Schmidt-Quernheim & T. Hax-Schoppenhorst (Hrsg.), Praxisbuch forensische Psychiatrie (S. 483 – 513). Bern: Hogrefe.
Walsh M (2016). Desistance – Ansätze und Befunde der Forschung zum Abbruch krimineller Karrieren. Forum Kriminalprävention, 3 (16), 22–25. https://www.forum-kriminalpraevention.de/files/1Forum-kriminalpraevention-webseite/pdf/2016-03/desistance-forschung.pdf (08.05.2019).
Willis G, Ward T (2013). The good lives model: Evidence that it works. In: Craig, L.; Dixon, L.; Gannon, T. (Eds.) (2013): What Works in Offender Rehabilitation: An evidence based approach to assessment and Treatment. S. 305–318. West Sussex, UK: John Wiley & Sons.
Winterberg W, Needham I (2010). Sicherheitsanforderungen vs Eigenverantwortung. Empowerment und Forensik. – Wunschtraum oder Wirklichkeit? Psych Pflege 4 (16): 184 – 188.