Die Einstellung zu Zwangsmaßnahmen unterliegt sich wandelnden gesellschaftlichen Einflüssen, die sich auch in der Praxis psychiatrischer Kliniken niederschlagen. Sicherheitsaspekte, Leitlinienkonformität und rechtliche Regulierungen in großer Detailtiefe bestimmen weit mehr als in den vergangenen Jahrzehnten das Handeln, aber auch die Einstellungen der psychiatrisch Tätigen. Das Symposium soll beispielhaft einige wichtige Aspekte herausgreifen und auch bisher noch nicht publizierte Daten präsentieren. Lieselotte Mahler wird den Spannungsbogen von dem wünschenswerten Ziel einer Recovery-orientierten Psychiatrie zum notwendigen Schutz von Beschäftigten und Patienten auf psychiatrischen Akutstationen in Einzugsgebieten mit sozialen Brennpunkten darstellen. Sophie Hirsch wird empirische Befunde über die Implementierung der S3-Leitlinie zur Verhinderung von Zwang und die Zusammenhänge mit Zwangsmaßnahmen und aggressiven Übergriffen auf den 55 teilnehmenden psychiatrischen Stationen der vom G-BA geförderten PreVCo-Studie darstellen. Angelika Vandamme wird empirische Befunde zur einem anerkannten sehr wichtigen, aber bezüglich der Erfassung mit erheblichen Barrieren verbundenen Aspekt darstellen: den Einstellungen und Überzeugungen des Klinikpersonals. Tilman Steinert wird Längsschnittdaten aus dem Zwangsregister Baden-Württemberg präsentieren, die es erlauben, die Auswirkungen der Einführung des Richtervorbehalts für Fixierungen durch das Bundesverfassungsgericht 2018 zur evaluieren.
zugeschaltet: Was erklärt die unterschiedliche Häufigkeit von Zwangsmaßnahmen auf psychiatrischen Stationen? Analyse von 55 psychiatrischen Stationen aus der PreVCo-Studie
Sophie Hirsch, Biberach (Germany)
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Autor:in:
Sophie Hirsch, Biberach (Germany)
Es gibt Befunde aus epidemiologischen Studien, dass sich Kliniken in der Anwendung von Zwangsmaßnahmen erheblich unterscheiden, ohne dass diese Unterschiede bisher wissenschaftlich erklärbar sind. Mit Hilfe der Baseline-Daten der PreVCo -Studie, welche die deutschlandweite Implementierung der S3-Leitlinie zur Verhinderung von Zwang und zur Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens wissenschaftlich begleitet, werden Faktoren, die zu mehr oder weniger Zwangsmaßnahmen auf einer Station beitragen könnten untersucht: Anzahl der Aufnahmen und Anteil der unfreiwilligen Aufnahmen, aggressiven Übergriffen gegen Personen, Belegungszahlen (Crowding), pflegerische und therapeutische Besetzung, Leitlinientreue der Behandlung, sowie die Diagnosen der behandelten Patienten. In die Studie wurden Stationen mir sehr unterschiedlichen Konzepten einbezogen: Aufnahme-, Sektor- und psychiatrische Intensivstationen, allgemeinpsychiatrische, suchtmedizinische und geriatrische Stationen. Auch diese sollen in der Analyse beleuchtet werden.
Einstellungen des Klinikpersonals gegenüber Zwang
Angelika Vandamme, Berlin (Germany)
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Autor:in:
Angelika Vandamme, Berlin (Germany)
Die Anwendung von Zwangsmaßnahmen (ZM) in der Psychiatrie stellt für Patient*innen eine Einschränkung ihrer Persönlichkeitsrechte dar, kann bis hin zu posttraumatischen Symptomen führen, jedoch in manchen Fällen eine unabdingbare Fürsorge darstellen. In dem Vortrag werden Ursachen für die Ausübung von ZM und Möglichkeiten zur Verhinderung von Zwang in der psychiatrischen Behandlung beleuchtet. Explizite und implizite Einstellungen von Mitarbeitenden zu ZM wurden im Rahmen einer multizentrischen Studie untersucht und mit Daten zu deren Häufigkeit verglichen. Weitere Einflussfaktoren wie Geschlecht, Berufsgruppe und Berufserfahrung wurden ebenfalls mit der Ausübung von ZM in Zusammenhang gebracht, um bei den bisher sehr divergenten Ergebnissen diesbezüglich für etwas mehr Aufklärung zu sorgen. Die Ergebnisse der Studie werden dargestellt. Berufsgruppenunterschiede und Geschlechtsunterschiede werden aufgezeigt.
Auswirkungen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2018 zu Fixierungen: Ergebnisse der Vollerhebungen in Baden-Württemberg
Tilman Steinert, Ravensburg (Germany)
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Autor:innen:
Tilman Steinert, Ravensburg (Germany)
Sophie Hirsch, Ravensburg (Germany)
Erich Flammer, Ravensburg (Germany)
Hintergrund: Das Bundesverfassungsgericht entschied 2018, dass Fixierungen an 5 und 7 Punkten die eingreifendste Form von Zwangsmaßnahmen sind und deshalb bei einer Dauer von über 30 Minuten einer richterlichen Genehmigung mit Überprüfung vor Ort bedürfen. Am Tag der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wurde auch die DGPPN S3-Leitlinie Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen publiziert. Das Verfassungsgericht gab Beschränkungen bei der Anwendung von Zwangsmaßnahmen vor, die Leitlinie gab Evidenz- und konsensbasierte Empfehlungen, wie dies geschehen kann. Es handelte sich damit um die vermutlich stärkste gesetzgeberische Intervention zur Reduzierung von Zwangsmaßnahmen weltweit. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts wurde im Lauf des Jahres 2018 in den öffentlich-rechtlichen Gesetzen der Bundesländer umgesetzt und in der Praxis des Betreuungsrechts analog übernommen.
Methode: Das seit 2015 bestehende Fallregister für Zwangsmaßnahmen des Bundeslandes Baden-Württemberg, in dem Zwangsmaßnahmen sowohl nach PsychKHG als auch nach BGB erfasst werden, erlaubte es, die Auswirkungen der Intervention zu evaluieren. Wir verglichen bei insgesamt 438.000 Aufnahmen die Jahre 2015 bis 2017 (vor dem Urteil) mit dem Jahr 2019 (nach der gesetzlichen Umsetzung des Urteils).
Ergebnisse: Der Anteil der Patienten, die von irgendeiner Zwangsmaßnahme betroffen war, fiel von 6,7 % auf 5,8 % (p < .001) und die durchschnittliche kumulierte Dauer pro betroffenen Fall reduzierte sich von 11,1 auf 10,0 Stunden (p < .001). Der Anteil von Fixierungen Betroffener fiel von 4,8% auf 3,6 %, der Anteil der von Isolierung Betroffenen erhöhte sich dagegen von 2,9% auf 3,3 %.
Schlussfolgerung: Die Intervention erwies sich als hoch wirksam, hat die Praxis aber nicht erdrutschartig verändert.