Tourette-Expert*innen beobachten seit etwa zwei Jahren ein zuvor unbekanntes Phänomen: Jugendliche und junge Erwachsene entwickeln quasi über Nacht eine dem Tourette-Syndrom ähnliche Symptomatik mit komplexen Bewegungen, Ausrufen von Schimpfwörtern und Beleidigungen sowie sozial unpassenden Verhaltensweisen. Mittlerweile ist erwiesen, dass es sich hierbei um eine neue Erscheinungsform einer funktionellen Störung handelt.
Ziel dieses Symposiums ist es, auf diese neue Präsentation einer funktionellen Störung aufmerksam zu machen. Da eine Abgrenzung zum Tourette-Syndrom nur möglich ist, wenn dessen Charakteristika bekannt sind, wird im ersten Vortrag eine Übersicht über die klinischen Merkmale primärer Tic-Störungen (wie dem Tourette-Syndrom) gegeben. Ganz im Gegensatz zu den aktuell häufig zu beobachtenden funktionellen Störungen beginnen Tic-Störungen langsam einschleichend im frühen Kindesalter. Im Vordergrund stehen nicht etwa komplexe Bewegungen und Beschimpfungen, sondern einfache motorische und vokale Tics wie Augenblinzeln, Grimassieren, Räuspern und Schniefen.
Im zweiten Vortrag wird ein geschichtlicher Überblick über funktionelle (Bewegungs-)Störungen und deren Charakteristika in Abhängigkeit von der Zeit gegeben. Im dritten Vortrag werden erste Daten einer prospektiven Studie zu funktionellen „Tourette-ähnlichen“ Störungen vorgestellt. Darüber hinaus wird eine Übersicht zum aktuell weltweiten Vorkommen derartiger funktioneller Störungen gegeben und Ergebnisse einer Europa weiten Umfrage vorgestellt. Bisherige Ergebnisse zeigen, dass von dieser neuen Form einer funktionellen Störung überwiegend Mädchen und junge Frauen betroffenen sind, der Beginn typischerweise abrupt ist und in der Mehrzahl weitere psychische Störungen bestehen wie Angsterkrankungen und autistische Züge. Bei einer Untergruppe der Erkrankten bestehen gleichzeitig Tics im Rahmen eines Tourette-Syndroms sowie funktionelle Bewegungen und Lautäußerungen. In diesen Fällen ist die diagnostische Einordnung schwierig, aber für eine adäquate Therapie besonders wichtig.
Abschließend werden Hypothesen zur Entstehung dieses neuen Phänomens vorgestellt. Unter Experten besteht Einigkeit, dass Darstellungen mit „Tourette-ähnlichen“ Verhaltensweisen in sozialen Medien wie YouTube, TikTok und Instagram entscheidenden Einfluss haben. In Deutschland ist anzunehmen, dass es sich um den Ausbruch einer sich via Internet ausbreitenden Massenhysterie handelt.