Vor 100 Jahren starb Max Weber, der für eine kulturwissenschaftlichen Psychiatrie und ihr Verständnis leitender Werturteile entscheidend war. Jaspers nahm diese selbstkritische Position auf, Werner Janzarik führte sie im strukturdynamischen Ansatz weiter. Gegenwärtig wird sie durch die aktuelle Pandemie auf den Prüfstand gestellt.
Auch heute gilt es angesichts tiefer Umbrüche unserer Lebenswelt, die auch die -zuweilen verdeckten- Werturteile betreffen, über die normative Dynamik des Faches nachzudenken. Wie können Psychiatrie und Psychotherapie theoretisch und praktisch auf den Wandel der Fakten und Wertvorstellungen reagieren? Wie können sie helfen, psychisch kranken Menschen in allen biologischen, sozialen und psychopathologischen Bedingtheiten individuelle Freiräume wertvollen Lebens zu erhalten? Erforderlich ist eine therapeutische Kultur in der Psychiatrie, die gleichermaßen dem natur- wie geisteswissenschaftlichen Erkenntnisstand entspricht.
Die Beiträge stellen Fragen nach gesellschaftlichen Ideologien, klinischen Konzepten, ideengeschichtlichen Voraussetzungen und empirischen Befunden, um den überdauernden wie den aktuellen Herausforderungen der fachlichen Identität Rechnung zu tragen.
zugeschaltet: Paranoide Konstruktionen als entfremdete Wiederverzauberung der Welt: Überlegungen am Beispiel der COVID-19-Pandemie
Andreas Heinz, Berlin (Germany)
Details anzeigen
Autor:in:
Andreas Heinz, Berlin (Germany)
Die technische Beherrschbarkeit einer Welt, die alles Geheimnisvolle verloren hat und sich auf Gebrauchs- und Tauschwerte reduzieren lässt hat Max Weber als “Entzauberung der Welt“ thematisiert. Bei Walter Benjamin findet sich die Rede vom „Verlust der Aura als Ausdruck“ der Entfremdung in einer warenförmig zugerichteten Welt. Gegen solche Erfahrungen der Anonymisierung und des Ausgeliefertseins gegenüber anonymen Mechanismen jenseits vertrauter Gemeinschaften gab und gibt es eine Vielzahl von Revolten. Werden Menschen wie “Rädchen im Getriebe“ behandelt, kann sich die Revolte gegen die vorherrschenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Machtstrukturen richten, sie kann sich aber auch eines romantisierenden Rückgriffs auf eine vermeintlich heile frühere Welt bedienen, die nicht im Rahmen wirtschaftlicher Strukturen, sondern aufgrund der vermeintlichen Schuld bestimmter machtvoller Täter entfremdet wurde. Es kann dann zur Idealisierung angeblich naturwüchsiger Gebilde wie eines ethnisch einheitlich imaginierten Volkes, überzeitlich gedachtet Tradition oder einer in erstarrten Ritualen zelebrierten Kultur kommen. Konfrontiert mit der anonymen COVID-Pandemie zeigen sich mehrere Aspekte einer solchen Idealisierung traditionell imaginierter Gemeinschaften, die “Reich“ und “Volk“ gegen kosmopolitisch verortete, vermeintlich böswillige Verursacher der Pandemie in Stellung bringt. Paradoxerweise verbleibt der Protest in entfremdeten Formen, da bereits vorherrschende, sozialexklusive Erzählungen reproduziert und gemeinschaftliche Konformität gefordert werden, wo Solidarität in einer offenen Gesellschaft nötig wäre.