In diesem Symposion werden theoretische und praktische Fragen der Schuldfähigkeitsprüfung im deutschen Rechtskreis aus forensisch-psychiatrischer Sicht behandelt und mit ausgewählten Problemen im US-amerikanischen Rechtsgebiet sowie in Großbritannien verglichen. Aus dem Kontrast der verschiedenen Systeme sollen sich Perspektiven für eine vertiefte Diskussion der konzeptionellen Grundlagen in unserem Land ergeben.
10:15 Uhr
Schuldfähigkeit und Unterbringung in forensisch-psychiatrischen Settings: Deutschland und Großbritannien im Vergleich
B. Völlm (Rostock, DE)
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B. Völlm (Rostock, DE)
In diesem Beitrag werden die wichtigsten Unterschiede zwischen Deutschland und Großbritannien im Bereich der forensischen Psychiatrie vorgestellt. Unterschiede bestehen u. a. durch die unterschiedlichen Rechtssysteme (römisich-germanischer Rechtskreis in Deutschland, common law in Großbritannien) sowie die unterschiedliche Organisation des Gesundheitswesens. Das Konzept der verminderten bzw. aufgehobenen Schuldfähigkeit existiert auch in Großbritannien, jedoch ist diese nicht Voraussetzung für die Aufnahme in eine forensisch-psychiatrische Klinik, vielmehr zählt hier die Behandlungsbedürftigkeit zum Zeitpunkt der Verurteilung. Die Behandlung forensisch-psychiatrischer Patient*innen erfolgt in Einrichtungen unterschiedlicher Sicherheitsstufen und ist streng evidenzbasiert. Stärken der Behandlung in Großbritannien sind die Bedeutung, die der Begleitforschung zugemessen wird sowie die im Vergleich zu Deutschland deutlich stärkere Patientenbeteiligung.
10:37 Uhr
Gutachtenaufgabe: Schuldfähigkeit oder nur psychiatrische Diagnose?
H. Kröber (Berlin, DE)
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H. Kröber (Berlin, DE)
Sollen sich psychiatrische Gutachten zur Schuldfähigkeit eines Menschen darauf beschränken, eine psychiatrische Untersuchung durchzuführen und festzustellen, ob eine psychische Störung vorliegt, die mit einer psychiatrischen Diagnose zu benennen ist? Oder soll diese Diagnose dann Ausgangspunkt einer Aussage darüber sein, ob die Fähigkeit zur Unrechtseinsicht oder zu einsichtsgemäßem Handeln aus Gründen psychischer Störung erheblich vermindert oder aufgehoben war? Manche Juristen, auch manche Psychiater (m/w/d) vertreten die Ansicht, letzteres verlasse das Kompetenzgebiet der Psychiatrie und sei allein normative Aufgabe der Richter. Tatsächlich aber kann ein Psychiater weitaus besser als ein Jurist einschätzen, wie eine bestimmte psychische Störung Einsicht und Willenssteuerung zu beeinträchtigen vermag; hier benötigen Rechtsgelehrte die Hilfe des Menschenkundlers. Gerade aus der klinischen Erfahrung mit psychisch Kranken oder Menschen mit schweren Persönlichkeitsstörungen ergibt sich das Wissen darüber, in welchem Umfang die Grundlagen des Verhaltens - Kognitionen, Emotionen, Willensbildung - durch eine psychische Störung verändert werden können.
10:59 Uhr
Welche Störungen sind überhaupt relevant für die Schuldfähigkeitsfrage?
H. Saß (Aachen, DE)
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H. Saß (Aachen, DE)
Eine sorgfältige Diagnostik auf der Basis des aktuellen Forschungsstandes ist unverzichtbar für die fachliche Verständigung, das klinische Handeln und das wissenschaftliche Arbeiten in der Medizin. Allerdings ist bei der forensischen Begutachtung zu berücksichtigen, dass es sich bei psychiatrischen Diagnosen in der Regel nicht um konkrete Sachverhalte auf der Grundlage gesicherter Kenntnisse über ätiopathogenetische Kausalzusammenhänge handelt. Die Begriffe in den diagnostischen Manualen stellen vielmehr Konventionen dar, mit fortwährenden Änderungen von System zu System und von Auflage zu Auflage. Dies schränkt die Kompatibilität mit den rechtlichen Krankheitsbegriffen ein, die auf relative Dauer angelegt sind und im kontinuierlichen Strom der Rechtsprechung eine gewisse Stabilität erfordern. Weitere Probleme bereiten der Verzicht auf den Krankheitsbegriff und die Aufblähung der Manuale durch die Hereinnahme immer neuer Verhaltensbesonderheiten, deren Krankheitscharakter fraglich ist. Von daher droht ein weiteres Auseinanderdriften der klinischen, der forschungsbezogenen und der forensisch-psychiatrische Diagnostik. Sicherlich wird bei der gutachterlichen Beurteilung in den verschiedenen Rechtsgebieten auch künftig die klassifikatorische Einordnung einer psychischen Störung im weiteren und einer psychischen Erkrankung im engeren Sinne erforderlich sein. Vordringlich aber bleibt die psychopathologische Analyse der gestörten psychomentalen Funktionen und ihres Zusammenhanges mit dem Einsichts- und Steuerungsvermögen zur Tatzeit. Hierauf wird v.a. im Hinblick auf die sog. „schwere andere psychische Störung“ der §§ 20,21 StGB eingegangen.
11:21 Uhr
Der Stellenwert psychotischer Störungen bei der "insanity defense"
A. Felthous (St. Louis/Mississippi, US)
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A. Felthous (St. Louis/Mississippi, US)
Der Oberste Gerichthof der USA hat in seinem Urteil von Kahler gegen Kansas (2020) festgestellt, dass die Abschaffung der Schuldfähigkeitsregel (insanity defense) in Bundesstaat Kansas verfassungsmäßig war. Die Begründung lautet, dass die Abschaffung der insanity defense nur dann verfassungswidrig wäre, wenn diese fest in den Traditionen und im Bewusstsein des Volkes verwurzelt ist. Kurz gesagt, die insanity defense muss den „Traditionstest“ bestehen. Laut Oberstem Gericht ist jedoch keine der verschiedenen Regeln für die insanity defense in den einzelnen Bundesstaaten der Vereinigten Staaten so fest in der Rechtsprechung verankert, dass der Traditionstest erfüllt wäre. Jeder Bundestaat in den USA hat sein eigenes Insanity-Gesetz erlassen, aber die meisten dieser Insanity-Regeln basieren auf einer Variation von einem der beiden etablierten Modellstandards (die M’Naghten Regel und der Standard des American Law Institutes). Egal wie formuliert, lassen sie die Insanity defense zu, wenn dem Angeklagten aufgrund einer Psychose die Fähigkeit zum rationalen Verständnis fehlt. Der Kern der meisten insanity standards beinhaltet also die rationale Kapazität, von daher erscheint hierfür der Traditionstest erfüllt. Es gibt also in unserem jungen Land seit über zwei Jahrhunderten einen Insanity Standard, der auf psychotisch bedingtem irrationalen Denken basiert, auch wenn er nicht in jedem Bundesstaat so genannt wird.