Seit Inkrafttreten des „Cannabis-Gesetzes“ im März 2017 sind die Verschreibungszahlen für Cannabis-basierte Medikamente in Deutschland kontinuierlich angestiegen. Arzneimittelrechtlich zugelassen sind allerdings bis heute nur der Cannabis-Extrakt Nabiximols (Sativex®) zur Behandlung von Spastik bei Multipler Sklerose, das Tetrahydrocannabidiol (THC)-Derivat Nabilon (Canemes®) zur Therapie von Übelkeit/Erbrechen infolge einer Chemotherapie und das Cannabidiol (CBD)-Präparat Epidyolex® für die Behandlung von Krampfanfällen bei Lennox-Gastaut-Syndrom, Dravet-Syndrom und Tuberöser Sklerose. Als erwiesen gilt die Wirksamkeit THC-haltiger Cannabis-basierter Medikamente mittlerweile auch bei chronischen (neuropathischen) Schmerzen.
Seit Jahren ist aus Umfragen bekannt, dass zahlreiche Patient*innen mit ganz unterschiedlichen psychischen Erkrankungen Cannabis als Selbsttherapie für eine Vielzahl von Symptomen und Erkrankungen einsetzen. Die Studienlage ist allerdings nach wie vor mangelhaft, so dass die Wirksamkeit Cannabis-basierter Medikamente für keine einzige psychiatrische Erkrankung als erwiesen gilt. Gut begründete Hinweise für eine Wirksamkeit THC-haltiger Präparate finden sich mittlerweile für das Tourette-Syndrom, die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und Schlafstörungen. Als weitere Indikationen werden Depressionen, ADHS, Suchterkrankungen, Autismusspektrum-Störung, Persönlichkeits- und Zwangsstörungen diskutiert. Für manche psychischen Erkrankungen wie Angststörungen und Psychose gibt es Hinweise auf eine Wirksamkeit reiner CBD-Präparate.
In diesem Symposium geben wir einen umfassenden Überblick über alle aktuell verschreibungsfähigen Cannabis-basierten Medikamente inklusive THC, CBD, Cannabisblüten und -extrakten, stellen die Datenlage zur Wirksamkeit Cannabis-basierter Medikamente bei psychischen Erkrankungen vor und gehen auf klinisch relevante Neben- und Wechselwirkungen ein.
16:00 Uhr
Indikationen für Cannabis-basierte Medikamente in der Psychiatrie
K. Müller-Vahl (Hannover, DE)
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Autor:in:
K. Müller-Vahl (Hannover, DE)
Für zahlreiche psychiatrische Erkrankungen bestehen Hinweise auf eine günstige Wirkung von Cannabis-basierten Medikamenten. Diese basieren überwiegend auf klinischen Erfahrungen und unkontrollierten Studien und Fallberichten. Darüber hinaus wurden basierend auf den psychischen Effekten von Cannabis bei gesunden Freizeitkonsumenten Hypothesen zur Bedeutung des Endocannabinoid-Systems bei psychiatrischen Erkrankungen und deren Behandlung mit Cannabis-basierten Medikamenten abgeleitet. Die Annahme einer positiven Wirkung von Cannabis-basierten Medikamenten steht aber auch in engem Zusammenhang mit der Tatsache, dass Cannabinoid-CB1-Rezeptoren generell im Gehirn in hoher Dichte vorkommen und dort – neben den Basalganglien – besonders im Hippocampus und Frontalhirn exprimiert werden, d.h. in Hirnregionen, die mit zahlreichen psychischen Erkrankungen in Verbindung gebracht werden. Welche Rolle im Gehirn exprimierten Cannabinoid-CB2-Rezeptoren bei der Entstehung und Behandlung psychischer Erkrankungen zukommt, ist bis heute ungeklärt. Im Gegensatz zu den CB1-Rezeptoren beschränkt sich die Lokalisation der CB2-Rezeptoren auf einige wenige Hirnregionen, darunter den Hirnstamm, die Substania nigra, den präfrontalen Kortex und den Hippocampus. Schließlich könnten bei psychischen Erkrankungen auch andere Endocannabinoid ähnliche Rezeptoren von Bedeutung sein wie der GPR55-, der TRPV1- und PPAR-Rezeptoren.
Derzeit kann wegen fehlender Daten für keine einzige psychische Erkrankung abschließend beurteilt werden, ob Cannabis-basierte Arzneimittel wirksam sind. In jüngsten systematischen Reviews bzw. Metaanalysen speziell zur Frage der Wirksamkeit Cannabis-basierter Medikamente bei psychiatrischen Erkrankungen wurde die Datenlage als „embryonic“, aber durchaus ermutigend bzw. „spärlich“ bezeichnet. Neuere kontrollierte Studien erbrachten Hinweise auf einer Wirksamkeit Cannabis-basierter Medikamente beim Tourette-Syndrom und der Autismus-Spektrum-Störung.